Selbstbestimmung verstehen
Selbstbestimmung bedeutet zum Beispiel, über die eigene Nahrungsaufnahme entscheiden zu können oder an selbstgewählten Freizeitaktivitäten teilzunehmen (Gesundheitliche Teilhabe und Selbstbestimmung). Diese einleitenden Worte wird das folgende Kapitel nun vertiefen. Dazu werden zunächst die Begriffe Selbstbestimmung und Empowerment erläutert. Anschließend an diese theoretischen Grundlagen wendet sich das Kapitel der Praxis zu. Dazu wird in Kapitel 4.3 aufgezeigt, mit welchen Veränderungen Sie (mehr) Selbstbestimmung in der Wohneinrichtung etablieren können. Ebenfalls werden Methoden vorgestellt, die Sie im Prozess gewinnbringend nutzen können.
Was ist Selbstbestimmung?
In Artikel 19 der UN-BRK werden die „Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft“ festgeschrieben. Mit diesen Begriffen sind Inklusion und selbstbestimmtes Leben gemeint. Der Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) hat zu Artikel 19 einen erläuternden Kommentar verfasst. Darin definiert der CRPD das selbstbestimmte Leben sehr klar:
Selbstbestimmt Leben bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen alle notwendigen Mittel gewährt werden, die es ihnen ermöglichen, Wahlfreiheit und Kontrolle über ihr Leben auszuüben und alle Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, zu treffen.Persönliche Autonomie und Selbstbestimmung sind von grundlegender Bedeutung für ein selbstbestimmtes Leben (...). Es geht darum, wo wir leben und mit wem, was wir essen, ob wir gerne ausschlafen oder abends gerne spät ins Bett gehen, ob wir lieber drinnen oder draußen sind, eine Tischdecke und Kerzen auf dem Tisch mögen, Haustiere halten oder Musik hören. Diese Handlungen und Entscheidungen machen uns aus.Selbstbestimmt Leben ist ein wesentlicher Bestandteil der individuellen Autonomie und Freiheit und bedeutet nicht automatisch, alleine zu leben. Selbstbestimmt Leben sollte auch nicht ausschließlich als die Fähigkeit interpretiert werden, alltägliche Tätigkeiten selbst auszuführen. Stattdessen sollte selbstbestimmtes Leben (...) als Freiheit zur Wahlfreiheit und Kontrolle verstanden werden.Selbstbestimmung als eine Form der persönlichen Autonomie bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen nicht ihrer Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich ihres persönlichen Lebensstils und ihres Alltags beraubt werden.1
Selbstbestimmt = selbstständig?
Ein häufiges Vorurteil gegen das Postulat der Selbstbestimmung ist: Nicht alle Menschen können selbstbestimmt leben, weil manche Menschen nicht selbstständig für sich sorgen können und auf (intensive) Unterstützung angewiesen sind. Diese Bedenken lassen sich schnell entkräften: Ein selbstbestimmtes Leben zu führen ist nicht dasselbe wie ein selbstständiges Leben zu führen! So beschreibt es treffend auch das European Network on Independent Living (ENIL) in seinem Myth Buster zur Selbstbestimmung:
Niemand ist selbstständig. Ob wir anerkannt ‚behindert‘ sind oder nicht – wir alle brauchen im Leben zu bestimmten Zeiten die Unterstützung anderer. Selbstbestimmung hat nichts zu tun mit der körperlichen oder geistigen Fähigkeit, ohne fremde Hilfe für sich zu sorgen; Selbstbestimmung entsteht dadurch, dass man Assistenz bekommt, wo und wie man sie benötigt. (…)In Wirklichkeit ist keiner von uns ganz selbständig – wir alle benötigen in unserem Leben irgendeine Art von Unterstützung und nehmen sie für uns in Anspruch. Zum Beispiel: Wenn wir eine Entscheidung treffen, können wir sie vorher mit einem Familienmitglied oder einem Freund besprechen. (...) Wir können in unterschiedlichen Momenten unseres Lebens Hilfe benötigen, etwa beim Kinderhüten, im Trauer- oder Krankheitsfall oder finanzielle Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Das ist bei Menschen mit Behinderung nicht anders. Seltsamerweise wird aber gerade von ihnen nicht selten erwartet, dass sie ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, selbst zurecht zu kommen, bevor man ihnen dasselbe zugesteht, was andere selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen.2
Sind alle Menschen in der Lage, selbstbestimmt zu leben?
Die Antwort von Fachleuten auf diese Frage ist daher sehr klar: ja. So stellt zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Heilpädagogik fest: Menschen werden ihr Selbstbestimmungspotenzial auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Weise entfalten. Aber man kann davon ausgehen, dass jeder Mensch Selbstbestimmungspotenziale entwickeln kann, indem er seine persönlichen und sozialen Ressourcen nutzt.3 Es ist jedoch möglich, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten in Wohneinrichtungen Unterstützung dabei benötigen, ihre Ressourcen überhaupt zu erkennen und dann auch zu entfalten. Denn Selbstbestimmung kann zunächst auch überwältigend wirken und muss möglicherweise neu oder wieder erlernt werden (Kapitel 4.3)
Selbstbestimmung unterstützen
Weil Selbstständigkeit keine Voraussetzung für Selbstbestimmung ist, bedeutet Selbstbestimmung keinesfalls, Menschen mit ihren Entscheidungen allein zu lassen.
(…) (für) die meisten (...) ist Selbstbestimmung so das Entlassen der preußischen Bauern in die Freiheit. Und auf die Frage, was sie damit anfangen sollen, antwortet man wie mit dem kategorischen Imperativ: „Das musst du schon selbst wissen!“
Stattdessen kommt Ihnen als Fachkraft oder als andere wichtige Bezugsperson (zum Beispiel Angehörige, rechtliche Betreuer:innen) eine entscheidende Rolle zu. Denn Sie als Bezugspersonen sind oftmals diejenigen, die den Bewohner:innen neue Möglichkeiten und Perspektiven aufzeigen können. Dadurch sind Sie in der Lage, Entscheidungen entweder zu behindern – oder aber die wichtige Assistenz bei selbstbestimmten Lebensentwürfen zu sein.4 Jede Person hält die Zuständigkeit für sich und ihr Leben in den eigenen Händen (oder Füßen). Wenn eine Person die Autonomie und Zuständigkeit für das eigene Leben nicht selbstständig verwirklichen kann, dann müssen Wege gefunden werden, um sie dabei zu unterstützen.5
Eine solche Assistenz beschränkt sich bei Menschen mit Lern-schwierigkeiten im seltensten Falle nur auf lebenspraktische oder pflegerisch-medizinische Hilfen, sondern sie hat im Sinne von Empowerment Aufgaben in den Blick zu nehmen, die für persönliches Wohlbefinden, eine sinnerfüllte Persönlichkeitsentwicklung und Lebenszukunft, für eine persönliche Lebensplanung, für ein selbstbestimmtes Leben in sozialer und gesellschaftlicher Bezogenheit, für Inklusion sowie für eine aktive und politische Partizipation an Öffentlichkeit von besonderer Bedeutung sind.6
Assistenz beschreibt hier keine bevormundende, sondern eine unterstützende Rolle. Und darin ergänzen sich die Prinzipien der Selbstbestimmung und der Gesundheitsförderung: Beide beinhalten, Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf den eigenen Alltag und den persönlichen Lebensstil zu haben und individuelle Entscheidungen akzeptiert zu sehen.
Der Empowerment-Ansatz in der Behindertenarbeit
Die Grundprinzipien, die hier einführend erklärt werden, wirken alle mit- und ineinander. So lässt sich neben der Verbindung von Selbstbestimmung und Gesundheitsförderung auch der Bogen zwischen Selbstbestimmung, Inklusion und Empowerment spannen. Weiter oben wurde bereits erläutert, dass Inklusion das Motto „Weg von der Fürsorge, hin zur Selbstbestimmung“ verfolgt. Statt Fürsorge und Fremdbestimmung wird ein Autonomie-Modell eingefordert, das sich auf die Menschen- und Bürgerrechte von Menschen mit Behinderung bezieht: Menschen möchten selbst darüber entscheiden, was sie gut, sinnvoll und hilfreich finden.7
Damit sind sehr deutlich auch Empowerment-Prozesse angesprochen.8 Der Empowerment-Ansatz ist seit den 1990er Jahren ein Leitbegriff der deutschsprachigen Sozialen Arbeit.9 Der Begriff bedeutet so viel wie Selbstbefähigung oder Selbstermächtigung. Er beschreibt Prozesse, in denen Menschen ihre eigenen Ressourcen erkennen und diese einsetzen, um (wieder) ein selbstbestimmtes Leben zu führen.10 Empowerment bezieht sich aber nicht nur auf individuelle Fähigkeiten, die gestärkt werden müssten. Der Ansatz geht vielmehr davon aus, dass innerhalb der Gesellschaft Macht ungleich verteilt ist. Benachteiligte oder ausgegrenzte Menschen und Gruppen sollen dementsprechend wieder mehr Macht erhalten.11
Empowerment wird von einigen sowohl als Selbstermächtigung als auch als Bemächtigung anderer gesehen.12 Dennoch können Sie Empowerment weder herstellen noch vermitteln: Sie können lediglich den Anstoß dazu geben und entsprechende förderliche Rahmenbedingungen schaffen.13 Im Zentrum stehen das Selbst und damit auch die jeweiligen Ressourcen des Individuums. Ein defizitäres Menschenbild – sich nur auf die „Mängel“ und Fehler einer Person zu konzentrieren – muss für diese Prozesse überwunden werden. Stattdessen ist eine konsequente Ressourcenorientierung die Grundhaltung des Empowerment-Ansatzes14 : Sie müssen an die Fähigkeiten der Menschen glauben.
Wenn Sie die Prinzipien von Selbstbestimmung und Empowerment in Ihrer Wohneinrichtung (weiter-)entwickeln wollen, dann sollten Sie diese Grundsätze auch konzeptionell verankern. Besonders zielführend kann sich erweisen, konkrete Ziele und Handlungsleitlinien vorzugeben. Die folgenden Kapitel können als Anregung für solche Vorgaben dienen. Bleiben Sie darüber im Austausch mit Mitarbeiter:innen und Kolleg:innen – und mit den Bewohner:innen. Reflektieren Sie Ihre Haltung und Ihre alltägliche Praxis und prüfen Sie immer wieder, ob Sie Ihren Grundsätzen treu bleiben. Bieten und nutzen Sie Schulungsangebote, bleiben Sie hartnäckig – aber auch geduldig. Veränderungen brauchen Zeit.
Peer-Support ermöglichen
Für alle Menschen ist es hilfreich, sich mit Menschen in derselben oder zumindest in einer ähnlichen Lebenssituation austauschen zu können. Bestimmte Erfahrungen kann man besser nachvollziehen, wenn man sie ebenfalls durchlebt hat. Die Peer-Beratung und damit der Austausch mit Peers sind daher ein wichtiger Bestandteil selbstbestimmter Lebensführung.
Jemand ist ein „Peer“ für eine andere Person, wenn sie:er eine bestimmte soziale oder kulturelle Gemeinsamkeit mit ihr:ihm aufweist. Das kann das Geschlecht, eine gleiche Altersgruppe, Berufsgruppe oder auch die sexuelle Orientierung sein. Auch Behinderung, Psychiatrieerfahrung, Migrationserfahrung oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen mit anderen ausgrenzenden Lebenserfahrungen können Merkmale für eine „Peer-Gruppe“ (engl.: „peer group“) sein.15
Voraussetzung für Peer-Beratung ist, dass die Berater:innen selbst mit einer Behinderung leben. Diese Form der Beratung wird auch von und für Menschen mit Lernschwierigkeiten angeboten. Häufig sind Peer-Beratungsstellen an die Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungsstellen (EUTB) angeschlossen.
Hinweise für Wohneinrichtungen
Wo befindet sich die nächste Peer-Beratungsstelle? Verbreiten Sie diese Information in der Einrichtung!
Prüfen Sie, ob Ihr Träger eine Peer-Beratungsstelle einrichten kann!
Finden Sie heraus, ob Bewohner:innen selbst als Peer-Berater:innen arbeiten möchten!
Mitunter sorgen sich Fachkräfte und andere Beteiligte, dass Beratungsthemen zu komplex sind, um in der Peer-Beratung von Menschen mit Lernschwierigkeiten adäquat besprochen zu werden. Bei einigen Fragen lässt sich beispielsweise Fachsprache nicht vermeiden. Diese Situationen hat der Selbstvertretungsverein Mensch zuerst e.V. in einer Broschüre zusammengefasst. Die Botschaft der „Goldenen Regeln für gute Beratung“: Menschen mit Lernschwierigkeiten müssen und können nicht zu jedem Thema beraten. Bei sehr schwierigen, zum Beispiel rechtlichen Themen, lassen sich die Berater:innen von einer anderen Person unterstützen. Das nennt man Tandem-Beratung oder Unterstützte Beratung.
Ein weiterer Vorteil von Peer-Austausch ist, dass Menschen in ähnlichen Lebenslagen oft über eine „gemeinsame Sprache“ verfügen. Sie können und dürfen anders miteinander sprechen, als dies für externe Personen akzeptabel wäre. Möglicherweise können Peers sich daher besonders gut gegenseitig Kompetenzen vermitteln, auf Denkfehler oder ungünstige Gewohnheiten hinweisen. Ein solcher Austausch auf Augenhöhe erleichtert es vielen Menschen, Ratschläge anzunehmen.
Unterstützte Beratung ist gut, wenn es darum geht:
— einen Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt zu suchen
— aus dem Wohn-Heim in eine eigene Wohnung zu ziehen
— wie geht man damit um, wenn man schlecht behandelt wird
— wie geht man damit um, wenn man Probleme mit seinen Eltern hat
(…)
Das ist auch wichtig:
Der Berater oder die Beraterin muss auch wissen:
Worin bin ich nicht so gut.
Zum Beispiel:
Es geht um schwere Fragen zum Recht.
Dann kann mireine Unterstützungs-Person helfen.
Oder eine andere Person
aus der Beratungs-Stelle
macht dann den Teil von der Beratung.16
Daher ist Peer-Austausch vielleicht auch für die Bewohner:innen Ihrer Wohneinrichtung interessant. Neben der eher institutionalisierten Form der Peer-Beratung besteht beispielsweise die Möglichkeit, informelle Treffen zu besuchen, sich mit den Mitbewohner:innen auszutauschen oder an anderen Gruppenangeboten teilzunehmen. Alternativ könnten Sie auch regelmäßige Austauschforen einrichten, in denen Bewohner:innen die Gelegenheit haben, über gesundheitsbezogene Themen zu sprechen.
Ich habe ja gerne Menschen unter mir, also dass ich Unterhaltung habe und so, hab ich gerne eigentlich. Weil ich lebe wohl alleine zu Hause, aber ich bin auch manchmal froh, wenn ich dann auch Menschen habe, die ich mit reden kann, die ich mit was machen kann.
Bevor Sie solche Angebote planen, sprechen Sie mit den Bewohner:innen: sie müssen entscheiden, was für ihre Situation gut und richtig ist. Kapitel 3 beschäftigt sich mit der Planung und Umsetzung von Angeboten.
Zur Gesundheitskompetenz befähigen
Wissen und Informationen sind wichtige Bausteine für gelingendes Empowerment, denn nur auf dieser Grundlage sind Menschen in der Lage, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Zum Bereich Wissen gehört auch der Zugang zu Bildungsangeboten. Das Thema Informationsvermittlung wird in Kapitel 4.3.1 vertiefend aufgegriffen. Im Zusammenhang mit Empowerment soll aber an dieser Stelle noch ein Hinweis gegeben werden: Menschen müssen neben grundlegenden Informationen auch die Konsequenzen der eigenen Handlungen verstehen können. Das kann für Sie als Fachkraft gegebenenfalls bedeuten, bestimmte Sachverhalte immer wieder zu thematisieren und sicherzustellen, dass die Bewohner:innen deren Auswirkungen verstehen. Dabei gilt es jedoch, zwischen unterschiedlichen Verhaltensweisen zu differenzieren: Einerseits ist es möglich, dass Menschen sich auf eine bestimmte Weise verhalten, weil ihnen tatsächlich das Wissen über die Konsequenzen fehlt. Zum Beispiel trinken einige Menschen Softdrinks, ohne zu wissen, dass der hohe Zuckergehalt auf Dauer gesundheitsschädlich sein kann. Andererseits ist es aber auch möglich, dass Menschen Entscheidungen treffen, obwohl sie die Konsequenzen kennen. Dann trinken sie Softdrinks im vollen Bewusstsein der „Nebenwirkungen“. Empowerment ist aber die Befähigung zur individuellen Gesundheit – und nicht die Befähigung zur perfekten, von Dritten vorgegebenen Gesundheit.
(...) es geht um Gesundheitsinformation, aber nicht -erziehung.
Menschen werden dazu befähigt, Gesundheitskompetenz zu entfalten, wenn die Rahmenbedingungen gegeben sind, die auf den vorangegangenen Seiten beschrieben wurden:
- Sie müssen Zugang zu Informationen und damit Wahlmöglichkeiten haben (Kapitel 4.3.1: Information und Möglichkeiten).
- Sie müssen Entscheidungen treffen können (Kapitel 4.3.2: Entscheidungsfreiheit).
- Sie müssen die entsprechende Assistenz erhalten (Kapitel 4.3.3: Personal).
Der folgende Teil des Praxishandbuchs erläutert, wie Sie diese Bausteine der selbstbestimmten Gesundheitsentscheidungen praktisch umsetzen und im Alltag implementieren können.
Wie kann in Wohneinrichtungen mehr Selbstbestimmung stattfinden?
Je nachdem, wie die Wohneinrichtung strukturiert ist, werden die Bewohner:innen in ihrem Alltag mehr oder weniger Erfahrung mit Selbstbestimmung gemacht haben. Bevor Sie entsprechende Veränderungsprozesse anstoßen, sei daher noch einmal auf einen Aspekt verwiesen, der weiter oben bereits angedeutet wurde: Selbstbestimmung kann anfangs gegebenenfalls einschüchternd wirken.
Viele Menschen mit Lernschwierigkeiten leben seit Jahren in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Sie haben sich mitunter daran gewöhnt, dass immer andere Personen für ihr Wohlergehen verantwortlich sind. Die „Rund-um-Versorgung“ der Einrichtungen kann dazu führen, dass die persönlichen Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten stark begrenzt sind.17 Solch eine „Institutionskarriere“18 kann vom Hilfesystem abhängig machen und dazu führen, dass sich Menschen von der allgemeinen Lebenswelt entfremden und dass es ihnen schwer fällt, eigene Bedürfnisse zu formulieren oder selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen.
Eine Person kann nur in dem Rahmen Lebensentwürfe entwickeln und formulieren, der für sie erfahrbar ist. 19
Diese „Gewöhnung an behinderungsspezifische Lebensräume“20 kann dazu beitragen, dass Menschen eine „erlernte Bedürfnislosigkeit“21 oder „erlernte Hilflosigkeit“22 entwickeln: Wenn Menschen in Umständen leben, die ihre persönliche Handlungsmacht stark einschränken, dann übertragen sie die Verantwortung für die eigene Person eventuell an Dritte. Ihnen fehlt dadurch die Gelegenheit, ein Selbstverständnis als aktives und eigenverantwortliches Individuum auszubilden. Überdies kann der routinierte Tagesablauf in den Wohneinrichtungen „eine gewisse Lethargie“ zur Folge haben, wodurch Bewohner:innen eventuell passiv und antriebslos wirken können.23 In dieser Situation kann einigen Menschen der Sinn für Selbstverantwortung abhanden kommen.
Selbstverantwortung und Selbstbestimmung können [dann] zur Last werden und man darf nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Idee der Selbstbestimmung auf volle Gegenliebe stößt.24
Rechnen Sie daher auch mit einem Übergangs- und Lernprozess, wenn Sie damit beginnen, den Grundsatz der Selbstbestimmung in der Wohneinrichtung (noch stärker) zu leben. Bieten Sie Gelegenheiten, diese – für einige Bewohner:innen vielleicht ganz neue – Praxis zu üben.
In diesem Kapitel werden nun die theoretischen Grundlagen, die auf den vorherigen Seiten aufgezeigt wurden, in praktische Hinweise umgesetzt. In Kapitel 4.3.1 lesen Sie, wie Sie Wahlmöglichkeiten und den Zugang zu Informationen sicherstellen können. Kapitel 4.3.2 thematisiert Mitbestimmung und Entscheidungsfreiheit und geht ebenfalls auf möglicherweise notwendige Fremdbestimmung ein. Die Rolle von Fachkräften sowie deren innere Haltungen werden in Kapitel 4.3.3 behandelt.
Information und Möglichkeiten
Sie konnten bereits lesen, dass Informationen eine wichtige Voraussetzung für selbstbestimmte Entscheidungen und auch für Empowerment-Prozesse sind. Denn nur, wenn Menschen wissen, welche Möglichkeiten sie haben und welche Konsequenzen ihre Handlungen nach sich ziehen, sind sie auch in der Lage, bewusste und souveräne Entscheidungen zu treffen (Gesundheitskompetenz). Das Wissen muss zudem im Alltag verankert werden. So zeigt beispielsweise eine Studie aus dem Jahr 2011, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Lage sind, ihr gesundheitsbezogenes Wissen zu erweitern – etwa indem sie an einem Gesundheitsprogramm teilnehmen. Die Lernerfolge scheinen jedoch nicht nachhaltig zu sein. Damit die Personen das Wissen auch in ihren Alltag übertragen können, müssen sie durch andere Personen unterstützt werden.25 In vielen Fällen ist somit nur der Dreiklang aus Informationen, Entscheidungsmöglichkeiten und Assistenz zielführend.
Angemessen informieren
Informationen werden über eine Vielzahl an Wegen vermittelt. Für die Vermittlung an Menschen mit Lernschwierigkeiten sind dabei zwei Voraussetzungen wichtig. Erstens ist für Menschen mit Lernschwierigkeiten der eigene Zugang zu Informationen oft erschwert. In diesem Fall sind sie auf Vermittler:innen angewiesen. Dieser Aspekt kann eine Reihe von Situationen umfassen: Wenn beispielsweise unklar ist, wo sich Informationen zu einem Thema finden lassen, dann müssen Sie als Vermittler:in eine konkrete Informationsquelle benennen. Wenn Menschen nicht selbstständig nach Informationen suchen oder diese verarbeiten können, dann bieten Sie Assistenz beim Recherchieren, Lesen und Erklären an. Zweitens ist bedeutsam, wie Informationen vermittelt werden. Der Zugang zu Informationen muss zunächst niederschwellig sein, also angepasst an die Lebensumstände, aber auch an die Kommunikationsbedarfe von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Dazu muss Wissen angemessen aufbereitet werden. So müssen textbasierte Informationen mindestens in Leichter Sprache vorliegen. Am besten arbeiten Sie aber auch mit einer Vorlesefunktion und anderen Methoden der Unterstützten Kommunikation. Wichtig ist, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten die Informationen verstehen und so selbstständig wie möglich aufnehmen können.
In den Wohneinrichtungen selbst kann die Informationsweitergabe sowohl online als auch offline geschehen. Der größte Informationsfluss passiert im 21. Jahrhundert im Internet. In vielen Wohneinrichtungen haben Menschen mit Lernschwierigkeiten aber weder uneingeschränkten Zugang zum Internet noch die Kompetenz, die webbasierten Informationsformen zu nutzen. Zugang zu WLAN und entsprechenden (individuellen oder gemeinschaftlichen) Endgeräten zu haben, ist eine Voraussetzung für den Zugang zu Informationen und für selbstbestimmte Entscheidungsfindung (Digitalisierung nutzen).
Wenn Sie sich als Organisation auch im Internet präsentieren: Gestalten Sie Ihre Homepage barrierefrei! Übersichtlichkeit, Leichte Sprache und eine Vorlesefunktion tragen dazu bei, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten sich selbstständig informieren können.
Geben Sie an, wer die Ansprechperson für Menschen mit Behinderung ist und wie die Angebote erreicht werden können.
Für Sportvereine: Weisen Sie auf Ihrer Homepage aus, welche Angebote auch Menschen mit Behinderungen nutzen können. Arbeiten Sie ohnehin schon selbstverständlich inklusiv? Bieten Sie spezielle Behindertensportgruppen an? Solche Informationen erleichtern die Recherche nach geeigneten Sportangeboten erheblich.
Für Sportbünde: Erstellen Sie eine Übersicht der Vereine, die inklusiv arbeiten. Geben Sie eine Ansprechperson an, die über die inklusiven oder behinderungsspezifischen Angebote in den Mitgliedsvereinen informieren kann.
Für Bildungseinrichtungen: Kurse im Bereich Gesundheitsbildung sind auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten interessant! Geben Sie daher auf Ihrer Homepage an, welche Kurse Sie beispielsweise in Leichter Sprache oder mit einer Simultanübersetzung in Leichte Sprache anbieten.
- Richten Sie die für alle zugänglichen Tablets oder Computer so ein, dass die Bewohner:innen dort schnell und übersichtlich Alltagsinformationen abrufen können: Wie wird das Wetter? Wann ist meine nächste ÖPNV-Verbindung? Wer ist wann im Dienst? Was gibt es zu essen?
- Stellen Sie Möglichkeiten zur Verfügung, um zu bestimmten Fragestellungen zu recherchieren: Welche Alternativen zu Milchprodukten habe ich? Wo finde ich passende Gerichte und Produkte, wenn ich auf Fleisch verzichten will? Lassen Sie es aber nicht dabei bewenden, die technischen Möglichkeiten zu schaffen, sondern denken Sie auch an die entsprechende Einweisung und Assistenz (Digitalisierung nutzen).
Doch auch analoge Informationsmöglichkeiten können hilfreich sein: Vielleicht liegt in der Einrichtung eine Mappe aus, die Informationen über wohnortnahe Sport- und Bildungsangebote enthält? Oder am Schwarzen Brett hängen aktuelle Flyer, etwa zu Bildungsangeboten, Sportvereinen und Beratungsstellen? Denkbar ist neben grundlegenden Informationen zu gesunder Lebensführung auch ein Leitfaden zum Thema Sport: Welche Sportarten gibt es überhaupt? Wie gehe ich vor, wenn ich einen bestimmten Sport ausüben möchte? Welcher Verein bietet diese Sportart an? Wen rufe ich an? Wer kann mir sonst noch weiterhelfen? Werden Sie kreativ, was das Informationsmaterial angeht. Und vor allem: Klären Sie mit den Bewohner:innen, ob die Informationen ihren Interessen entsprechen!
In vielen Fällen werden Sie Informationen weniger über strukturiertes Material, sondern über informelle Gespräche weitergeben. Sei es in einer stationären Wohneinrichtung oder im Betreuten Wohnen – als Fachkraft werden Sie mit den Bewohner:innen im Austausch sein. Einige Einrichtungen sehen dazu fixe wöchentliche Termine vor, andere wählen einen anderen Turnus oder besprechen sich eher nach Bedarf. Diese Termine sind eine gute Gelegenheit, um (nach Wunsch!) beispielsweise Informationen zu möglichen Ernährungsweisen zu geben, über die Bedeutung von Bewegung zu sprechen oder über Krankheiten, die mit Bewegungsmangel und einseitiger Ernährung im Zusammenhang stehen. Solche Gespräche sollten als sensible und wertschätzende Aufklärung erfolgen. Die Entscheidung, daraufhin zu handeln, liegt bei der Person selbst.
Eine weitere Möglichkeit bieten Methoden, bei denen sich die Bewohner:innen selbst informieren können, indem sie ihr eigenes Verhalten reflektieren. Zu einer solchen Methode zählt zum Beispiel ein Trinkprotokoll, das über mehrere Tage ausgefüllt werden kann (Vorlage: Getränketagebuch). So wird ersichtlich, welche Getränke in welcher Menge getrunken werden. Die Methode lädt zum Nachdenken über die eigenen Gewohnheiten ein – und die Reflexion wird dadurch erleichtert, dass die Person ihre Verhaltensmuster selbst beobachten kann.
- Ein:e Bewohner:in hat sich vorgenommen, zweimal pro Woche nachmittags in den Fitnessraum zu gehen? Es kann frustrierend sein, sich für die Erinnerung an dieses Vorhaben immer auf andere verlassen zu müssen. Entwickeln Sie daher Ideen für Erinnerungsfunktionen, die eine möglichst eigenständige Nutzung zulassen, zum Beispiel einen Wecker, eine Armbanduhr, ein Smartphone oder etwas ganz anderes.
Möglichkeiten aufzeigen
Untrennbar verbunden mit dem Zugang zu Informationen ist der Bereich der Möglichkeiten: Was kann man überhaupt tun? Dazu zählen beispielsweise Möglichkeiten der Ernährung oder der Freizeitgestaltung. Als Fachkraft in einer Wohneinrichtung sind Sie sehr eng in das tägliche Leben der Bewohner:innen eingebunden. Daraus ergibt sich auch die Verantwortung, den Bewohner:innen diese unterschiedlichen Möglichkeiten zu vermitteln. Nur, wenn die Bewohner:innen ihre Möglichkeiten kennen, können sie diese nutzen und auch selbst eigene Ideen entwickeln. Hilfreich sind an dieser Stelle auch die Erkenntnisse und Materialien des Projektes „GESUND! – Gesundheitsförderung mit Menschen mit Lernschwierigkeiten“ der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB) und des vdek. Praxishilfen mit Lernmaterialien zu den Themen Herzgesundheit, gesundes Essen und Trinken sowie Entspannung stehen zum Download bereit. Zudem sind Projektvideos auf der Projektseite einsehbar (Link zum Projekt GESUND!)
Im Bereich der Ernährung lassen sich zum Beispiel Alternativen entdecken zu Getränken oder Nahrungsmitteln, die Sie gemeinsam als eher ungesund eingestuft haben. So kann die Information, wie viel Zucker in einer Flasche Sprite steckt, ein erster Schritt der Erkenntnis sein (Schaubild: Zucker in Getränken). Eine Veränderung kann aber erst dann eintreten, wenn auch Ausweichmöglichkeiten bekannt sind. Existiert in der Wohngruppe ein Mixer, so dass Bewohner:innen sich ihre eigene Limonade zubereiten können? Ist es alltagstauglicher, stattdessen eine Saftschorle mit einem Spritzer Zitronensaft zu trinken? Oder reicht es schon, einige Gläser Sprite einfach durch Wasser zu ersetzen? Eine gute Orientierung liefert die Ernährungspyramide des Bundeszentrums für Ernährung (BZfE).
Für den Bereich der Freizeitgestaltung fehlt es häufig an einer Übersicht über vorhandene Angebote: Welche Sportarten existieren überhaupt? Und welche bieten die örtlichen Vereine an? Wie lassen sich bekannte Sportarten gegebenenfalls abwandeln, damit auch Menschen mit Behinderung sie gut ausführen können? Auch bestimmte Strukturen sind oft unbekannt: Wandern Bewohner:innen gerne? Dann machen Sie sie auf den Deutschen Alpenverein (DAV) mit seinen niederschwelligen Angeboten im Bereich Wandern (z.B. Wandertage, Spaziergangsgruppen) aufmerksam. Auch an Erfahrungswissen mangelt es vielen Menschen mit Lernschwierigkeiten, die in Einrichtungen leben: Welche Bewegungsarten mag ich überhaupt? Ist dieses Erfahrungswissen nicht vorhanden, sollten Räume geschaffen werden, um es zu entwickeln, etwa indem Bewohner:innen unterschiedliche Sportarten ausprobieren. Dies kann zunächst über ein internes Angebot geschehen, das möglicherweise in ein externes mündet (Zugang zu externen Angeboten). Gesundheitsförderung in Wohnsettings bedeutet u. a., alle möglichen Angebote im Quartier zu erschließen und in den wechselseitigen Austausch mit dem Quartier zu gehen. Inklusive Gesundheitsförderung eröffnet Möglichkeiten und befähigt Menschen, diese zu nutzen.
Neben strukturierten Sportangeboten bestehen weitere Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Kennen Menschen diese Möglichkeiten nicht und wissen sie ihre Zeit nicht anders zu füllen, nehmen sie möglicherweise ungünstige Bewegungs- und/oder Ernährungsgewohnheiten an. Diese Entscheidung ist völlig legitim. Formulieren Bewohner:innen jedoch, dass sie unzufrieden mit diesem Lebenswandel sind, ist es an der Zeit, alternative Möglichkeiten der Freizeitgestaltung zu eruieren.
Viele gesundheitliche Ziele benötigen zudem eine langfristige Perspektive. Nutzen Sie für die Entwicklung dieser langfristigen Ziele auch die Methoden der Personenzentrierten Planung. Damit Menschen aber überhaupt eine gedankliche Alternative zum Status Quo entwickeln können, müssen sie in der Lage sein, sich unterschiedliche Lebensmodelle vorzustellen. Fachkräfte benötigen für diese Vermittlungsaufgabe ein umfangreiches Fach- und Methodenwissen. Als Leitung werden Sie gemeinsam mit den Mitarbeiter:innen entscheiden, welche Formate sich dazu eignen. Fortlaufender Austausch in den Teamsitzungen? Strukturierter Input in Form einer Weiterbildung? Überlegen Sie, welche Methoden das gewünschte Ergebnis am besten erzielen können.
Wahlmöglichkeiten sicherstellen
Was Menschen in Privathaushalten als Selbstverständlichkeit annehmen, ist für viele Menschen in Wohneinrichtungen kaum möglich: auf der Grundlage von Informationen zwischen verschiedenen Alternativen auswählen und diese Entscheidungen dann umsetzen zu können. Wenn in der Kantine beispielsweise nur eine Auswahl zwischen drei hochkalorischen, nährstoffarmen Speisen besteht (Ausgewogene Lebensmittel anbieten), dann wird jegliches Wissen um ausgewogene Ernährung irrelevant. Dieses Wissen kann mangels Wahlmöglichkeiten nicht in die Lebenspraxis umgesetzt werden.
Gleichzeitig bedeutet Wahlmöglichkeiten zu haben auch, dass Menschen Auswahloptionen ausschlagen dürfen: Niemand sollte einen Salat essen müssen, weil eine dritte Person der Meinung ist, dass Salat gesund sei – oder einen Spaziergang machen müssen, weil die Wohngruppe gemeinsam geht. Die Bewohner:innen sollten die Möglichkeit haben, nach den eigenen Überzeugungen handeln zu können.
(...) und Bewegung, da wird man dann auch nett hin motiviert. (...) Selbstbestimmt ist da die Frage. Also da geht eine Gruppe spazieren, weil die Wohneinrichtung wenig Personal hat (…).
Wahlmöglichkeiten scheitern teilweise auch an knappen Personalressourcen, weil Bewohner:innen keine individuelle Assistenz in Anspruch nehmen können. So reicht der Personalschlüssel im Alltag der Wohneinrichtungen manchmal nur für einen Gruppenspaziergang. Doch auch größere und „bessere“ Angebote bergen Fallstricke: Sobald Sie Geld in ein Angebot investieren – etwa ein Projekt zur Gesundheitsbildung –, beschließen Sie von außen, welches Angebot den Bewohner:innen zur Verfügung stehen wird. Echte Wahlmöglichkeiten bestehen aber dort, wo eigenes Geld zur Verfügung steht, mit dem eine Person ihre eigenen Interessen realisieren kann. Im Idealfall sollten sämtliche Projektmaßnahmen partizipativ entwickelt werden.
Wahlmöglichkeiten lassen sich auf zwei Ebenen verorten: auf einer alltäglichen, einrichtungsbezogenen und auf einer übergeordneten, gesellschaftlichen Ebene. Auf die alltäglichen Wahlmöglichkeiten haben Sie als Fachkraft und insbesondere als Leitung einen großen Einfluss.
- Überlegen Sie gemeinsam, was auf den Tisch kommt. Bieten Sie auch gesunde Alternativen an.
- Lassen Sie die Einheitskost hinter sich. Fragen Sie, welche Lebensmittel gewünscht werden.
- Stellen Sie gemeinsam Speisepläne auf.
Jede Wohneinrichtung ist anders. Überlegen Sie daher, welche Bereiche für Ihren individuellen Fall darüber hinaus wichtig sind. Anregungen für eine solche Reflexion finden Sie unter "Wahlmöglichkeiten im Alltag sichern".
Während Sie auf alltägliche Wahlmöglichkeiten Einfluss nehmen können, betrifft die zweite Ebene der Wahlmöglichkeiten vor allem die gesellschaftlichen Verhältnisse: Teilhabewünsche scheitern oftmals an strukturellen Problemen, an hohen Gebühren oder fehlenden Transportmöglichkeiten. Daher muss sich für gelingende Inklusion auch das Umfeld darauf einstellen, realistische Optionen zu ermöglichen und Barrierefreiheit von Beginn an mitzudenken. Nur so können auch Menschen mit Lernschwierigkeiten neue und möglichst inklusive Aktivitäten ausprobieren. Wie sich der Zugang zu Angeboten verbessern lässt, wird ausführlich in Kapitel 6 erläutert.
Lebenssituationen vergleichen
Nehmen Sie sich Zeit, um über die Wahlmöglichkeiten nachzudenken, die Bewohner:innen im Alltag haben. Nutzen Sie dazu zum Beispiel eine Teamsitzung, einen Workshop oder eine trägerweite Fortbildung. Besonders hilfreich ist dabei ein Vergleich mit der eigenen Lebenssituation: Wann haben Sie die Wahl? Dokumentieren Sie dazu beispielsweise einen typischen Tag und visualisieren Sie Ihre Ergebnisse. Alle Kleinigkeiten sind wichtig: Welche Socken ziehen Sie an? Wann putzen Sie Ihre Zähne? Was steht auf dem Frühstückstisch? Wie kommen Sie zur Arbeit?
Stellen Sie dann folgende Fragen:
Sind diese Wahlmöglichkeiten für Sie selbstverständlich?
Was würden Sie fühlen, wenn Sie diese Wahl nicht hätten?
Haben die Bewohner:innen dieselben Wahlmöglichkeiten wie Sie?
Was empfinden die Bewohner:innen möglicherweise, weil sie diese Wahl nicht haben?
Was spricht dagegen, dass Bewohner:innen in diesem Bereich Wahlmöglichkeiten haben?
Welche Veränderungen müssen eintreten, damit im Alltag mehr Wahlmöglichkeiten bestehen?
Wie können Sie die Bewohner:innen in die weitere Planung einbinden?
Eine weitere Barriere für Wahlmöglichkeiten ist die notwendige Antragstellung, denn Menschen mit Behinderungen in Wohneinrichtungen können viele Dinge nur auf Antrag umsetzen (z.B. Assistenzleistungen in Bezug auf ein Sportangebot). Seit der schrittweisen Einführung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) wird in Nordrhein-Westfalen dazu das Bedarfsermittlungsinstrument BEINRW eingesetzt. Der BEINRW erhebt entlang eines Gesprächsleitfadens die individuellen Assistenzbedarfe von Menschen mit Behinderung. Festgelegt wird ebenfalls, wie viele Fachleistungsstunden eine Person zur Assistenz benötigt. Das neue Vorgehen soll dazu beitragen, Assistenz individueller leisten zu können26 . Spontane Aktivitäten sind in diesem System allerdings nur schwer umzusetzen, da sie nicht als Maßnahme im BEI_NRW festgelegt werden können und somit auch nicht finanzierbar sind.
Stellen Sie sich folgende Situation vor:
Auf der Rückfahrt von der Arbeit beschließen Sie, zu Hause schnell die Badesachen einzupacken und im Schwimmbad ein paar Bahnen zu ziehen. Im Schwimmbad bemerken Sie eine Gruppe Erwachsener, die offenbar an einem strukturierten Training teilnehmen. Sie sprechen die Trainerin an und finden heraus, dass sich hier jeden Dienstag die örtliche Triathlon-Truppe trifft. Triathlon? Das wollten Sie doch immer schon mal ausprobieren – was für ein Zufall! In den nächsten zwei Wochen gehen Sie zum Schnuppertraining und steigen dann voll ein. Das Training in der Gruppe motiviert Sie so, dass Sie auch Ihr altes Fahrrad wieder aus dem Keller holen. Zumindest beim Laufen waren Sie zwar schon ein alter Hase. Aber so einen Triathlon hätten Sie ohne die Gruppe nie in Angriff genommen.
Wie viele Hürden hätten Sie nehmen müssen, wenn Sie stattdessen in einer Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderung wohnten und Assistenz beim Weg zum Schwimmbad benötigten? Wären Sie dann dort, wo Sie jetzt in diesem fiktiven Beispiel sind? Hätten Sie die Möglichkeit, eher zufällig ein neues Hobby zu entdecken? Könnten Sie das Projekt „Triathlon“ so lange im Kopf behalten, dass Sie es im nächsten BEI_NRW zur Niederschrift geben und dann strukturiert nach der Assistenz verlangen, die Sie benötigen?
Entscheidungsfreiheit
Seit einer Weile schon werden Gesprächsleitfäden eingesetzt, um gemeinsam mit den Bewohner:innen deren Ziele und Assistenzbedarfe zu erarbeiten. Diese Neuerung ist begrüßenswert, denn Menschen sollten bei der eigenen Bedarfsermittlung zwingend ein Mitspracherecht haben. Für die meisten Menschen ist es ziemlich normal, Entscheidungen über ihr Leben selbst zu treffen oder an diesen Entscheidungen zumindest maßgeblich beteiligt zu sein. Dieser Zustand sollte auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten erreicht werden.
Ist es bahnbrechend, an den Entscheidungen über das eigene Leben beteiligt zu werden – oder sollte es selbstverständlich sein?
Neben einem grundlegenden Wissen (Kapitel 4.3.1) benötigen Menschen daher auch ein bestimmtes Umfeld, um Entscheidungen treffen zu können:
- Sie müssen die Gelegenheit haben, Entscheidungen treffen und über ihr eigenes Leben bestimmen zu können.
- Sie müssen in einem Umfeld leben, das ihre Entscheidungen akzeptiert und unterstützt .
- Sie müssen gelernt haben, überhaupt eine Entscheidung treffen zu können.
Diese Aspekte werden im Folgenden näher besprochen, bevor sich abschließend die Frage stellt, ob einige Situationen auch Fremdbestimmung erfordern.
Mitbestimmung normalisieren
Eine Wohneinrichtung ist das Zuhause der Menschen, die dort leben. Hier müssen sie die Gelegenheit haben, Entscheidungen zu treffen – große wie kleine. Auch die Themen Ernährung und Bewegung mit all ihren Implikationen fallen in diesen Bereich. So ist beispielsweise in Wohneinrichtungen, die noch versorgungsorientiert arbeiten, das Einkaufen ausgelagert. Die Bewohner:innen solcher Einrichtungen gehen selten oder nie selbst in den Supermarkt. Damit fehlt ihnen auch die Erfahrung, selbst Lebensmittel zu kaufen oder im Geschäft spontan zu entscheiden, was sie kaufen möchten.
Klar fragt man vorher: Auf was hast du Lust? Was möchtest du einkaufen? Aber es ist ja trotzdem was anderes, ob ich selbst in den Laden fahre, da auch mal vergleiche und mich noch mal umentscheide – oder ob ich das einfach geliefert bekomme oder (...) eingekauft wird, was dann auf dem Zettel letztendlich steht.
Gemeinsames Einkaufen hängt aber auch mit dem Personalschlüssel zusammen. Möglicherweise scheitern diese ernährungsbezogenen Alltagsaktivitäten in Ihrer Wohneinrichtung an fehlender Assistenz für die Bewohner:innen. Dann begegnen Sie dieser Herausforderung stattdessen zunächst mit anderen Möglichkeiten. Nutzen Sie zum Beispiel die wöchentlichen Gruppengespräche, um die Gerichte der kommenden Woche zu planen und einen Essensplan aufzustellen. So haben alle Bewohner:innen zumindest einen Einfluss auf die Mahlzeiten, wenn auch nicht alle am Einkauf beteiligt sind. Bei Einbindung der Materialien des Projektes GESUND! können hierzu eigene Gesundheitsziele formuliert und operationalisiert werden.
Als Fachkraft müssen Sie diese Entscheidung akzeptieren. Auch bei Ihnen zu Hause prüft niemand Ihren Essensplan kritisch, um ihn gesünder zu machen (Wahlmöglichkeiten im Alltag sichern).
Finden Sie gemeinsam mit den Bewohner:innen heraus, ob ihnen ausgewogenere Speisen überhaupt wichtig sind. Wenn ja, suchen Sie nach Alternativen und ersetzen Sie beispielsweise bestimmte Zutaten der Lieblingsgerichte – etwa Fleisch durch eine pflanzliche Alternative. Nicht alles „Ungesunde“ muss immer ersetzt werden – aber vielleicht möchten die Bewohner:innen eines der Gerichte pro Woche abwandeln.
Über reine Gesundheitsthemen hinaus haben viele Einrichtungen mittlerweile einen Bewohner:innen-Rat, der an bestimmten Entscheidungen beteiligt ist. Ihre Einrichtung hat noch keinen Bewohner:innen-Rat? Dann könnte jetzt eine gute Zeit sein, um einen solchen Rat ins Leben zu rufen! Sie sollten in diesem Prozess sensibel bleiben und immer wieder daran arbeiten, dass die Zusammenarbeit gelingt: Wie gestalten Sie echte Beteiligung? Welche Methoden können Sie einsetzen? Wie finden Sie Gesprächsformen auch für komplexe und abstrakte Themen? Einige Vorschläge zur gemeinsamen Zusammenarbeit finden Sie hier. Überlegen Sie, welche weiteren Strukturen Sie neben diesen Beispielen etablieren können, damit Bewohner:innen mehr Mitspracherecht haben.
Entscheidungen akzeptieren
Haben Menschen die Gelegenheit, eigene Entscheidungen zu treffen, dann müssen diese Entscheidungen auch angenommen werden. Dies gilt besonders in einem Setting wie einer Wohneinrichtung, wo Fachkräfte aufgrund ihres Status eine gewisse Machtposition bekleiden (Strukturen und Machtverhältnisse reflektieren). Ihre Aufgabe als begleitende Fachkraft ist daher, ausreichende Informationen zu geben und sicherzustellen, dass Bewohner:innen die Konsequenzen ihrer Handlungen verstehen (Informationen & Möglichkeiten). Diese Aufgabe ist äußerst komplex, denn Sie wollen die Bewohner:innen aufklären und anleiten, ohne jedoch maßregelnd in ihr Leben einzugreifen – „Du sollst doch nicht so ungesund essen!“: Es steht niemandem zu, die Entscheidungen anderer wertend zu beurteilen. Diese Rolle gilt es immer wieder neu zu reflektieren (Haltung wahren). Sie arbeiten mit erwachsenen Individuen (Individuen sehen), die ein Recht auf eigene Entscheidungen haben. Handeln Sie im besten Fall so, wie Sie selbst behandelt werden möchten (Wahlmöglichkeiten im Alltag sichern).
Ihre Rolle ist es,
(...) als Ermöglicher aufzutreten und weniger als belehrende Person.
Die Entscheidungen der Bewohner:innen müssen Sie akzeptieren –
auch, wenn die Entscheidungen Ihrem eigenen Verständnis widersprechen,
auch, wenn Bewohner:innen bestimmte Angebote ablehnen und
auch, wenn Bewohner:innen sich für „ungesundes“ Verhalten entscheiden (Rauchen und Alkoholkonsum eingeschlossen).
Vielleicht haben Sie in diesen Situationen das Gefühl, als Fachkraft an Grenzen zu stoßen: „Die Bewohner:innen haben kein Verhältnis zu gesunder Ernährung, und auch meine Anleitung trägt nicht zu einer gesünderen Lebensführung bei.“ – „Ich möchte ja, dass sich die Bewohner:innen mehr bewegen, aber sie boykottieren das Sportangebot.“ So können Sie in einen Kreislauf negativer Gedanken und Vorannahmen gelangen. Möglicherweise hemmen diese Erfahrungen auch Ihren Enthusiasmus. Welche Möglichkeiten der Intervention stehen Ihnen in solchen Situationen noch offen? Im Sinne dieses Praxishandbuchs bleibt Ihnen eigentlich nur eine Möglichkeit: Sollte Ihre Beziehung zu der betreffenden Person ausreichend vertrauensvoll sein, dann holen Sie ihr Einverständnis ein und besprechen Sie die Lage.
- Fehlt der Person die Wissensgrundlage für gesunde Entscheidungen?
- Vielleicht erweisen sich ein Kurs oder eine Ernährungsberatung als sinnvoll, damit Bewohner:innen ihre eigenen Gesundheitsvorstellungen umsetzen können. Gut einsetzbar sind an dieser Stelle auch die Projektmaterialien aus dem Projekt GESUND! (https://www.vdek.com/vertragspartner/Praevention/projektgesund.html?erasecache=1688631094570).
- Trifft die Person bewusst ungesunde Entscheidungen?
- Dann ist das ihr gutes Recht – und Sie müssen diese Entscheidungen akzeptieren.
Lässt Ihre Beziehung es zu, könnten Sie weiter nachfragen: Wieso möchtest du (zum Beispiel) nicht am Sportangebot teilnehmen? Sind die Übungen zu leicht oder zu schwer? Ist die Art der Bewegung nicht die richtige? Was müsste angeboten werden, damit du gerne teilnimmst? Kann es stattdessen eine Alternative geben? Stellen Sie im Gespräch konkrete Barrieren fest, dann suchen Sie gemeinsam nach möglichen Lösungen.
Eigenverantwortung unterstützen
Ebenso, wie sie selbstbestimmte Entscheidungen treffen möchten, wollen viele Menschen auch die Verantwortung für ihre eigene Person und ihr Leben übernehmen. Bei Menschen mit Lernschwierigkeiten müssen Sie die Fähigkeiten der Eigenverantwortung möglicherweise unterstützen. Wenn Sie sich noch einmal erinnern: Auf den vorangehenden Seiten wurde beschrieben, dass Selbstbestimmung auch Übung erfordert und dass das Credo der Selbstbestimmung keinesfalls bedeutet, Menschen mit ihren Entscheidungen allein zu lassen (Selbstbestimmung unterstützen). Dasselbe trifft auch auf Eigenverantwortung zu.
Gesunde Lebensführung ist vielleicht auch in „Ihrer“ Wohneinrichtung ein Thema, dass die Bewohner:innen von sich aus zur Sprache bringen. Sie wünschen sich beispielsweise Unterstützung bei dem Vorhaben, abzunehmen, besser zu essen oder mehr Sport zu treiben. Statt zu denken: „Ach, Herr Robel würde gerne mehr Sport machen, aber er schafft es nicht, sich zu motivieren/erinnern/aufzuraffen – also kann ich ihm auch nicht helfen!“, sollten Sie die nötige Assistenz ermöglichen. Überlegen Sie gemeinsam Möglichkeiten der Unterstützung. Was hält Herrn Robel zurück? Wie kann er sich möglichst selbstständig erinnern? Kann er eine:n Trainingspartner:in überzeugen? Können Sie gemeinsam die Grundlage für gesundheitszuträgliche Gewohnheiten legen? So können Sie das eigenverantwortliche Handeln der Bewohner:innen unterstützen und ermöglichen.
Ein kurzer theoretischer Exkurs zur Herstellung von Behinderung: Menschen mit Lernschwierigkeiten bleiben häufig im „Kosmos Menschen mit Lernschwierigkeiten“27 stecken. Alle Menschen benötigen immer wieder im Leben Unterstützung (Zitat: ENIL 2014), doch viele Menschen können diese Unterstützung recht informell in Anspruch nehmen: Ihre Schwester kommt zum Babysitten, Ihr:e Partner:in erinnert Sie ans Schwimmtraining, Ihr:e Freund:in begleitet Sie zu einem wichtigen Termin ins Krankenhaus. Ihre persönlichen Kompetenzen bleiben davon unberührt. Menschen mit Lernschwierigkeiten spricht man jedoch häufig ihre Kompetenzen ab: Man drückt ihnen das Etikett „Mensch mit Lernschwierigkeiten“ auf und nimmt ihnen in Institutionen viele alltagspraktische Entscheidungen ab. Dadurch fehlt ihnen sowohl Übung als auch die Erfahrung von Selbstermächtigung. In der Folge erwerben sie nur mangelhafte Fähigkeiten und Kompetenzen, was ihre behinderungsspezifischen Defizite in den Augen der anderen „bestätigt“ und wiederum das Etikett „Mensch mit Lernschwierigkeiten“ weiter verfestigt. So wird Behinderung hergestellt und immer wieder neu hergestellt.28 Und hier geht es mit der Praxis weiter.
- Haben Sie den Eindruck, Bewohner:innen fehlt das kognitive Verständnis, um eigenverantwortlich zu handeln?
- Eigenverantwortung erfordert Übung, wenn Menschen nicht daran gewöhnt sind – ebenso wie selbstbestimmte Handlungen und Entscheidungen. Schaffen Sie einen Raum, der diese Übung fördert. Wiederholen Sie Inhalte bei Bedarf immer wieder, denn auch Informationen im Kurzzeitgedächtnis sind wertvoll. Orientieren Sie sich dabei an den Kompetenzen der Bewohner:innen. Vertrauen Sie aber auch auf diese Kompetenzen (Empowerment-Ansatz) und darauf, dass sie gefestigt und erweitert werden können. Alle Menschen sind lernfähig.
- Verstehen Bewohner:innen zwar die Konsequenzen ihrer Handlungen, sind aber nicht bereit, entsprechend eigenverantwortlich zu handeln? Mangelt es ihnen aus Ihrer Sicht an Selbstdisziplin?
- Bleiben Sie konstruktiv und wertschätzend. Sprechen Sie mit der betreffenden Person über ihre Ziele und Wünsche. Lesen Sie hier mehr über Motivation.
- Welche Rolle kommt Ihnen als Fachkraft dabei zu?
- Wenn Herr Löwenzahn den Wunsch äußert, abzunehmen, aber in seiner Freizeit dann doch nur fernsieht und Chips isst... Dann vereinbaren Sie vielleicht, dass Sie Herrn Löwenzahn bei Gelegenheit an das selbstgesteckte Ziel erinnern – und daran, dass Fernsehen und Chipsessen diesem Ziel nicht förderlich ist. Eine Alternative hat er vielleicht vorab mit Ihnen erarbeitet.
Befähigen Sie die Bewohner:innen dazu, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Bieten Sie Unterstützung beim Einkaufen an, beraten Sie bei der Ausgabe des Taschengelds, weisen Sie auf externe Aktivitäten hin. Schaffen Sie ein Umfeld und ein Bewusstsein für Eigenverantwortung. Nehmen Sie Menschen als selbstbestimmte Personen wahr, die in der Lage sind, gesundheitsbezogene Entscheidungen zu treffen.
Erkennen Sie diese Fähigkeiten an und setzen Sie sich dafür ein,
(...) dass (...) der grundsätzliche Blick auf Menschen mit Lernschwierigkeiten in vielen Bereichen geändert (wird), weg von so einem sehr bevormundenden, so ein bisschen infantilen Blick (...) . (...) wenn (...) das Endziel ist, dass eine Person selber Entscheidungen trifft, dann muss (...) am Anfang stehen, dass überhaupt das Umfeld das auch als selbstverständlich ansieht, dass das eine Person auch tut und tun kann.
Notwendige Fremdbestimmung?
Vielleicht haben Sie sich während der Lektüre bereits gefragt, ob Selbstbestimmung und freie Entscheidung in wirklich jeder Situation gerechtfertigt sind. Denn als Fachkraft einer Wohneinrichtung haben Sie gegenüber den Bewohner:innen auch einen gewissen Schutzauftrag. In vielen Einrichtungen etwa werden Fachkräfte die Bewohner:innen davon abhalten, sich selbst zu verletzen. Auch übermäßiges oder unkontrolliertes Essen kann in bestimmten Fällen eine solche Selbstverletzung darstellen. Bis zu welchem Grad Sie diesen Schutzauftrag ausführen, ist jedoch nicht eindeutig festgelegt: Wo endet der Schutz der Person und wo beginnt die Fremdbestimmung?
Schutzauftrag
Fachkräfte benötigen einen verlässlichen Handlungsrahmen. Entwickeln Sie daher Regularien für den Schutz der Bewohner:innen. Je nach Kontext muss klar sein, wann das Einschreiten der Fachkräfte erforderlich ist, da sonst gegebenenfalls auch unterlassene Hilfeleistung vorliegen kann.
Menschen dürfen in der Regel Fehler machen und die Verantwortung für ihr eigenes Tun übernehmen. Menschen mit Lernschwierigkeiten wird diese Verantwortung jedoch oftmals abgesprochen. Statt durch eigene Fehler lernen zu können, müssen sie auf die entsprechenden Lernprozesse oft verzichten.29
Und ich glaube, was bei Menschen mit Lernschwierigkeiten (...) noch mal sehr viel stärker hervortritt ist so der Gedanke von: Die sind schnell mit vielem überfordert und können das eigentlich selber nicht, deshalb müssen wir für die entscheiden, was gut ist.
So kämpfen Menschen mit Lernschwierigkeiten (noch immer) gegen die Annahme, dass sie gesundheitsrelevante Sachverhalte nicht verstehen können. Weil diese Annahme weiter besteht, werden Menschen mit Lernschwierigkeiten umfassend versorgt. Dadurch haben sie wenig Mitspracherecht. Selbstbestimmte Gesundheitsförderung bedeutet aber unter anderem, dass Menschen in der Lage sind, ihr Umfeld zu beeinflussen und dass sie gesundheitsbezogene Entscheidungen treffen können (Gesundheitsförderung). Dabei ist irrelevant, wie „gesund“ andere Menschen diese Entscheidungen einschätzen. Alle Menschen dürfen so gesund oder ungesund leben, wie sie möchten. Menschen mit Lernschwierigkeiten in Wohneinrichtungen sollten da keine Ausnahme bilden.
Arbeiten Sie ressourcenorientiert (Empowerment-Ansatz). Verlassen Sie sich auf das, was eine Person hat und kann. Unterstützen Sie diese Ressourcen, indem Sie beispielsweise Informationen zur Verfügung stellen und gemeinsam herausfinden, ob und wo weiterer Handlungsbedarf besteht.
Die Frage, ob Selbstbestimmung und freie Entscheidung in jeder Situation gerechtfertigt sind, lässt sich im Sinne dieses Praxishandbuchs mit einem klaren Ja beantworten. In der Regel werden Sie für Ihre Einrichtung jedoch Maßnahmen treffen, um das Leben von Bewohner:innen zu schützen. Diese Maßnahmen sollten klar und verhältnismäßig sein.
wenn Sie als Fachkraft Bewohner:innen nicht ernst nehmen und ihnen den Erwachsenen-Status aberkennen,
wenn Sie Bewohner:innen überwachen und kontrollieren,
wenn Sie die Willensbekundungen der Bewohner:innen ignorieren,
wenn Sie Entscheidungen über den Kopf von Bewohner:innen hinweg treffen oder Entscheidungen stellvertretend übernehmen,
wenn Sie Bewohner:innen Informationen vorenthalten,
wenn Bewohner:innen keine Auswahl von Optionen haben,
wenn Lernprozesse für Bewohner:innen verhindert werden,
wenn Sie das Ausführen von Entscheidungen verhindern,
wenn Sie Bewohner:innen die Unterstützung bei der Ausführung verwehren oder
wenn Sie Zwang ausüben und Entscheidungen gegen den erklärten Willen einer Person umsetzen.
Personal
Den Fachkräften in Einrichtungen kommt bei selbstbestimmter Gesundheitsförderung eine Schlüsselfunktion zu, denn sie sind jeden Tag im engen Kontakt mit den Bewohner:innen. Daher entscheiden ihr Wissen und ihre Einstellungen maßgeblich darüber, ob Bewohner:innen Unterstützung erfahren oder Zugang zu Angeboten erhalten.30
Fachkräfte haben dabei komplexe und vielfältige Aufgaben zu bewältigen:
- Sie müssen die Zeit haben, um die Grundsätze von Empowerment und Selbstbestimmung im Berufsalltag umsetzen zu können.
- Sie sollten eine belastbare Haltung zum Thema Selbstbestimmung und gesunde Lebensführung entwickeln.
- Sie brauchen fundierte Kenntnisse zu den Themen Gesundheit, Ernährung und Bewegung.
- Sie müssen die Möglichkeit haben, mit den Bewohner:innen die zur Verfügung stehenden Optionen kennenzulernen und auch den Sozialraum zu erkunden.
- Sie müssen ihre persönlichen Einstellungen zu gesundheitsbezogenen Themen hinterfragen.
- Sie sollten immer wieder die Strukturen reflektieren, in denen sie arbeiten – denn in der Beziehung Fachkraft Bewohner:in liegt ein Machtgefälle, das Fachkräfte sensibel beobachten sollten.
Viele dieser Aufgaben können nur unter bestimmten Voraussetzungen stattfinden, die größtenteils in der Verantwortung von Einrichtungsleitungen liegen – etwa die Personalplanung, Weiterbildungsangebote oder konzeptionelle Entscheidungen. Andere Bereiche wie die Finanzierung von Einrichtungen und damit auch die Finanzierung von Personalsätzen werden auf höheren Ebenen verhandelt. Einige Punkte setzen wiederum direkt bei den Fachkräften an, weil sie eine innere Haltung betreffen, die nur sie selbst sich aneignen können.
In diesem Unterkapitel werden vorrangig jene Themen angesprochen, auf die Sie einen konkreten Einfluss haben können. Übergeordnete Forderungen, die sich aus den geschilderten Situationen ergeben, werden zwar benannt, ohne aber Lösungen anbieten zu können. So ist beispielsweise der Alltag in den Wohneinrichtungen stark vordefiniert, was zur Folge hat, dass „selbstermächtigtes, pädagogisch-reflexives Handeln“ 31 für viele Fachkräfte kaum noch möglich ist. Ein solches strukturelles Problem verlangt nach Lösungen auf politischer Ebene, die in diesem Praxishandbuch nur angedeutet werden können.
Stattdessen wird sich das Kapitel im Folgenden verstärkt damit beschäftigen, wieso Personalressourcen eine bedeutende Rolle spielen, welche Haltung für das Thema selbstbestimmte Gesundheit förderlich ist und wie sich die „Machtverhältnisse“ in Einrichtungen gestalten.
Personalressourcen bereitstellen
Fach- und Assistenzkräfte sind der Schlüssel zu selbstbestimmter Lebensführung. Dieses Kapitel richtet sich daher in erster Linie an Leitungskräfte und andere Personen mit entsprechender Entscheidungsbefugnis. Denn obwohl dieses Praxishandbuch an vielen Stellen aufzeigt, wie auch mit knapper Personalmenge Ziele erreicht werden können, ist dies kein wünschenswerter Zustand. Das Ziel der neuen Leistungsform nach dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) soll eine individuelle Assistenz der Bewohner:innen sein. So können Menschen individuell die Fachleistungsstunden beantragen, die ihren Bedarfen entsprechen. Bisher werden Fachkräfte jedoch nach Maßstäben eingesetzt, die sich kaum am individuellen Assistenzbedarf der Bewohner:innen orientieren.
Wir haben eine festgelegte Personalmenge, die relativ wenig mit den individuellen Bedarfen zu tun hat, sondern das ist eher aus dem Blickwinkel einer Dienstabdeckung: Wie viel Personal brauche ich, damit die Wohngruppe beziehungsweise die 24 Bewohner einer Wohneinrichtung (...) irgendwie betreut werden?
Vielleicht ahnen Sie es schon: Wenn das Ziel von Personalplanung ist, dass die Bewohner:innen „irgendwie betreut werden“, sind weder die Prioritäten noch die personellen Ressourcen vorhanden, um selbstbestimmte Gesundheitsförderung zu ermöglichen. Denn es erfordert Zeit, Menschen zu selbstbestimmten Entscheidungen zu befähigen und Assistenz bei Unternehmungen zu bieten – Zeit, die in einem solchen Modell unberücksichtigt bleibt. Für gelingende Gesundheitsförderung ist ein ausreichender Personalschlüssel unabdingbar.
Also wissen ja alle, dass die Menge an Betreuung (...) einfach begrenzt ist. Und das ist eine finanzielle Frage. Also, wenn jeder Mensch mit Behinderung seine Eins-zu-eins-Assistenz hätte 24 Stunden, dann könnte ich natürlich auch viel mehr anbieten, auch an Bewegungsangeboten. Dann könnte ich den Nutzgang zum Supermarkt begleiten eins zu eins und so weiter.
Im Bereich der Gesundheitsförderung können Menschen mit Lernschwierigkeiten möglicherweise individuelle Assistenz bei folgenden Tätigkeiten benötigen:
- beim Einkaufen,
- beim Kochen,
- bei der Recherche nach Sport-, Bildungs- oder Beratungsangeboten,
- bei der Kontaktaufnahme zu Sportvereinen oder Beratungsangeboten,
- bei der Begleitung zu Sport- oder Bildungsangeboten oder
- beim Erarbeiten und Verfolgen von eigenen Gesundheitszielen.
Je nach Struktur Ihres Trägers sowie Ihrem persönlichen Einflussbereich bieten sich für den Personalbereich vier verschiedene Optionen an.
Erstens: Sie sind in der glücklichen Lage, mehr Personal einstellen zu können oder die tätigen Fachkräfte mit mehr Stunden zu beschäftigen.
- Stellen Sie Fachleute ein, die jeweils für die Bereiche Bewegung und Ernährung zuständig sind (Zuständigkeiten klären).
- Bieten Sie Mitarbeiter:innen an, einen Übungsleiter:innen-Schein zu machen und damit auch selbst Sportangebote zu leiten (oder nutzen Sie vorhandene Scheine – denken Sie aber auch an die zusätzliche Arbeitszeit während des Sportangebots).
- Bauen Sie den Bereich der digitalen Assistenz aus, denn hier ist es nicht mit der Hardwareausstattung allein getan – begleitend dazu müssen Fachpersonen Schulungen geben und Bewohner:innen und Mitarbeitende in der praktischen Anwendung unterstützen (Digitalisierung nutzen).
- Stellen Sie Mitarbeitende ab, um den Sozialraum zu erkunden oder Angebote zu initiieren.
- Brauchen die Hauswirtschaftskräfte Unterstützung oder können sie die Begleitung beim Kochen übernehmen? Besteht ein Interesse an Schulungen, so dass sie weitere Aufgaben übernehmen können? Welche Abläufe können verändert werden? Welche Bedarfe haben sie?
- Können die Hausmeister:innen Hilfe gebrauchen oder haben sie Lust, einmal pro Woche ein offenes Angebot zu gestalten (Basteln, Bauen, Gartenpflege)?
- Sind die FSJ-ler:innen in der Lage, eigenständig Assistenz zu leisten?
- Gibt es Ehrenamtliche, die Menschen beim Sport oder Spaziergang begleiten möchten?
- Können sich die Bewohner:innen ggf. gegenseitig unterstützen?
Drittens: Ziehen Sie in Betracht, dass Bewohner:innen auch ein Persönliches Budget beantragen können. Der Antrag ist mit Aufwand verbunden und teilweise kompliziert. Aber er lohnt sich, und zur Unterstützung existieren Broschüren fachlich versierter Beratungsstellen. Über ein Persönliches Budget können zum Beispiel die Träger der Sozial- und Eingliederungshilfe Leistungen zur Mobilität (Assistenz, Begleitung, Fahrtkosten, Mobilitätshilfen) und Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erbringen.32
Viertens: Gesundheitsförderung ist immer als Kooperationsaufgabe angelegt – Assistenzangebote können daher auch von „außen“ hergestellt werden. Verhandeln Sie beispielsweise im Sportverein einen „Abholservice“ oder sorgen Sie dafür, dass die VHS oder Familienbildungsstätte den gemeinsamen Weg zum Kursangebot mit einplant. Inklusive Gesundheitsförderung im Setting bedeutet, dass auch das Setting sich entwickelt (Gesundheitsfördernde Lebenswelten).
Solange Gesundheitsförderung aber als Zusatzaufgabe betrachtet wird, wird sie immer nachrangig behandelt werden.
Das Problem ist ja, dass Sie auch immer Personalstunden brauchen, wenn Sie das noch mal quasi von außen aufgesetzt auf den Alltag machen wollen.
In dieser Form hat sie weder Priorität noch wird sie als ein Aspekt angesehen, der selbstverständlich zum Leben von Menschen mit Lernschwierigkeiten dazugehört. Es ist von großer Bedeutung, welche Worte genutzt werden, denn diese Worte prägen auch das Denken.
Nehmen Sie sich Zeit, um über den Alltag nachzudenken. Nutzen Sie dazu zum Beispiel eine Teamsitzung, einen Workshop oder eine trägerweite Fortbildung. Als Grundlage können die Ergebnisse des Bereiches Wahlmöglichkeiten im Alltag sichern dienen. Dort haben Sie die Wahlmöglichkeiten in Ihrem Alltag bestimmt. Aus diesen Situationen können Sie ablesen, welche Bereiche zu Ihrem Alltag gehören. Essen? Kochen? Einkaufen? Sport? Ein Weiterbildungskurs am Abend?
Wie definieren Sie demgegenüber den Alltag in der Wohneinrichtung? Wie können Sie diesen möglichen Unterschieden begegnen?
Haltung wahren
Weil den Fachkräften eine entscheidende Rolle beim Thema Selbstbestimmung zukommt, sind deren innere Haltung und formale Qualifikation von enormer Bedeutung.33 Damit Selbstbestimmung ein selbstverständlicher Teil der Arbeit wird, ist es wichtig, immer wieder die eigene professionelle Haltung zu reflektieren. Damit kann auch einhergehen, sich mit der Denkweise zu beschäftigen, die in der Wohneinrichtung insgesamt vorherrscht. Selbstbestimmung und damit verbunden auch Gesundheitsförderung sind Themen, die am besten auch konzeptionell verankert sind, täglich gelebt und regelmäßig überprüft werden. Das Kapitel richtet sich daher vorrangig an Fach- und Leitungskräfte, weil sie die operative Ebene der Wohneinrichtungen repräsentieren.
Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten haben das Recht auf ungesunde Entscheidungen oder auf Entscheidungen, die Ihren Präferenzen als Fachkraft entgegen stehen können (Entscheidungen akzeptieren). Solche selbstbestimmten Entscheidungen sind hingegen unmöglich, wenn Sie Menschen nicht zutrauen, dass sie selbst wissen, was das Beste für sie ist. Diese vertrauende Akzeptanz müssen Sie sich möglicherweise erarbeiten.
Das ist eine Haltungsfrage. (...) Also im Grunde genommen muss es für alle klar sein: Wer ist mein Kunde? Und der Kunde steht im Zentrum und das, was der Kunde an Bedarfen äußert, muss ich durchsetzen gegenüber einem Leistungsträger, in unserem Fall dem LVR. Und wenn das bewilligt ist, dann setze ich das um.
Die Bezeichnung „Kunde“ oder „Kundin“ legt nahe, dass viele Einrichtungsträger sich mittlerweile als Dienstleister sehen. Im Dienstleistungsbereich ist die Kundin Königin und der Kunde ist König. Dieses Bild ist übertragbar auf den Bereich der selbstbestimmten Gesundheitsförderung: Bei allem Handeln sollte die Person im Mittelpunkt stehen. Für viele Menschen mit Lernschwierigkeiten ist es jedoch selbstverständlich, dass sich andere um ihr Wohlergehen sorgen. Ebenso ist ihnen möglicherweise in vielen Fällen nicht bewusst, dass sie einen Anspruch auf Leistungen haben, den sie Fachkräften gegenüber geltend machen könnten. Eine Aufgabe der Wohneinrichtungen sollte daher sein, dieses Bewusstsein zu stärken, damit Menschen ihr Leben selbstbestimmt führen können.
(...) von der Theorie könnten die [Bewohner:innen] ja ein(e) ganz andere (...) Anspruchshaltung [haben], hätten sie ja jedes Recht der Welt dazu und eine ganz andere Anspruchshaltung oft an den Mitarbeiter zu haben. Aber das bringt der Personenkreis halt zu wenig mit.
Fachkräften kommt zudem eine Art Vorbildfunktion zu. Dazu zählt insbesondere ein authentisches Auftreten. Ermahnen Sie Bewohner:innen ständig, sie würden zunehmen – und schmieren sich beim Abendessen dann selbst Nutellabrote? Reden Sie häufig davon, dass alle mehr Sport machen sollten – und fahren selbst nur mit dem Auto? Verbieten Sie den Bewohner:innen, in der Einrichtung Alkohol zu trinken – entspannen aber selbst gerne bei einem Feierabend-Bier? Diese Beispiele sind möglicherweise etwas überspitzt. Legen Sie aber an andere Menschen keine strengeren Maßstäbe als an sich selbst an. Wenn Ihnen eine gesunde Lebensführung wichtig ist, dann überzeugen Sie stattdessen durch Ihre Handlungen.
Weitere Hinweise zum Thema innere Haltung finden Sie unter Bewusstsein erhalten.
Erklären Sie Selbstbestimmung zu einem grundlegenden Ausbildungsprinzip!
Strukturen und Machtverhältnisse reflektieren
Sie haben in Ihrem Leben sicher allerlei über Menschen mit Behinderung gelernt, und dieses angesammelte Wissen beeinflusst natürlicherweise jede Situation, die Sie erleben. Vielleicht haben Sie im Studium oder in der Ausbildung gelernt, dass Sie als „Professionelle:r“ in der Regel die besten Entscheidungen treffen. Erinnerungen an diese Denkweise spiegeln sich noch in Berufsbezeichnungen wie Heilpägog:in, Heilerziehungspfleger:in oder Sozialbetreuer:in. Diese Begriffe drücken aus, dass behinderte Menschen geheilt, erzogen und betreut werden müssten. Dieses Praxishandbuch führt eine andere Sichtweise aus: Menschen mit Behinderung benötigen Assistenz, um selbstbestimmt darüber entscheiden zu können, wie sie ihr Leben mit (nicht trotz) ihrer Behinderung gestalten möchten.
Wenn Sie an den Alltag in der (Wohn-)Einrichtung denken, dann fällt Ihnen vielleicht auf: Als Fachkraft besetzen Sie eine Art Autoritätsfunktion. Diese Autorität drückt sich schon in vermeintlich beiläufigen Situationen aus, etwa wenn Sie das Programm am Wochenende bestimmen, wenn Sie Frau Glauber auftragen, ihr Bett zu machen oder wenn Sie Herrn Ämmerding anweisen, abends nur Salat zu essen. Sie sind als Fachkraft in der Lage, das Leben der Bewohner:innen zu beeinflussen. Je nachdem, wie groß dieser Einfluss ist, kann dadurch ein mehr oder weniger großes Machtgefälle entstehen: Fachkräfte haben viel Macht, Bewohner:innen wenig.
Auch in Bezug auf das Thema Gesundheit haben Fachkräfte Macht: die Macht, viel von ihren eigenen Überzeugungen einzubringen; den Bewohner:innen eventuell ihre eigenen Vorstellungen „überzustülpen“ oder die Wünsche und Entscheidungen von Bewohner:innen (negativ) zu beurteilen. Diese Macht kann aber auch als Chance verstanden werden, die Bewohner:innen zu empowern, ihre eigenen Überzeugungen entwickeln zu können. Gesundheitsförderung erfordert daher ebenso, das Machtverhältnis in der Einrichtung verantwortungsvoll zu reflektieren und damit die Selbstwirksamkeit der Bewohner:innen zu stärken.
Erst muss diese Struktur verändert werden, damit das überhaupt möglich wird, Menschen zu befähigen. Weil im Moment steht dem eine strukturelle Gewalt und ein nicht mehr aktuelles Positionsverständnis vielfach dagegen, ohne, dass das den Mitarbeitern bewusst ist und ohne, dass man denen das vorwerfen darf. Nur ich glaube, es wird zu selten die Frage gestellt: „Denkst du, dass so, wie du handelst, dass das immer noch richtig ist?“
Der Grundsatz „Gesundheitsinformation statt -erziehung“ kann auch an dieser Stelle als Faustregel dienen, denn in einer „erziehenden“ Rolle werden Sie Menschen anders gegenübertreten als in einer informierenden und begleitenden Rolle. Achten Sie daher sensibel auf Ihre Handlungen. Wessen Meinung stellen Sie in den Vordergrund – die der Bewohner:innen oder Ihre eigene? Wie viel Freiraum lassen Sie? Beziehungen, die sehr pädagogisch gefärbt sind, können zu unerwünschten Szenarien führen: Entweder verspüren Bewohner:innen keine Lust auf eine Aktivität, weil „nur die Betreuer:innen das wollen“ – oder sie befolgen Ratschläge unreflektiert, so dass ihre eigene Entscheidungsmacht eingeschränkt wird.
Neben der Meinung von Fachkräften fallen häufig auch die Vorstellungen von Angehörigen, Ärzt:innen oder anderen Expert:innen stark ins Gewicht. Nicht selten wiegen dabei die Meinungen anderer Menschen gleich viel oder sogar mehr als die Meinung der betreffenden Person.
Ich glaube, bei dem Thema Gesundheit, Bewegung (...) ist dahingehend schwierig, (...) dass zum Beispiel Eltern, Angehörige eine bestimmte Haltung dazu haben und natürlich der Mensch mit Behinderung auch eine bestimmte Haltung und Mitarbeiter auch. Und man hat ja oft dieses Dreieck und ich finde auch zu diesem Thema ist das schon auch nicht einfach, (...) weil da auch immer drei unterschiedliche Vorstellungen manchmal aufeinanderprallen.
Insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Bewegung und Ernährung können diese ergänzenden Meinungen dazu führen, dass sich Menschen mit Lernschwierigkeiten stärker rechtfertigen müssen als Menschen ohne Behinderung. Behalten Sie daher unbedingt im Blick, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten auch eigene Entscheidungen treffen dürfen, wenn diese Entscheidungen gegen die Präferenzen von anderen verstoßen. Statt alle Meinungen gleich zu gewichten, stellen Sie konsequent die Wünsche der Bewohner:innen in den Mittelpunkt. Abbildung 6 verdeutlicht diese Perspektive.
Schaffen Sie ein Umfeld, in dem Sie sich selbst wohlfühlen könnten und das ebenfalls Ihre Selbstbestimmungsrechte wahren würde. Denken Sie daran, dass auch Menschen mit Lernschwierigkeiten Fehler machen und „über die Stränge schlagen“ dürfen (Notwendige Fremdbestimmung?).
Reflexion für alle!
Trauen Sie sich, zu reflektieren und Ihre Privilegien zu hinterfragen: Wie ist die Struktur unserer Einrichtung? Wo sind wir exkludierend? Wo bevormundend? Nutzen Sie einen internen Workshop oder externe Angebote. Berücksichtigen Sie, dass Selbstreflexion anstrengend ist und mitunter sogar unangenehm sein kann. Sorgen Sie daher dafür, dass das Angebot attraktiv ist und das Thema vielleicht auch spielerisch bearbeitet wird.
Methoden finden
Wenn die Wünsche der Bewohner:innen im Mittelpunkt stehen sollen, dann müssen Sie diese Wünsche zunächst identifizieren. Dieses Kapitel bietet Ihnen Hinweise zu Methoden, die Sie einsetzen können, um die Wünsche und Bedarfe der Bewohner:innen zu erfragen.
Kommunikation unterstützen
Viele Einrichtungen nutzen bereits die Möglichkeiten der Unterstützten Kommunikation. Menschen, die sich verbalsprachlich nicht (für andere verständlich) ausdrücken können, nutzen dabei andere Mittel der Kommunikation.
Ziel ist es, Menschen ohne Lautsprache die Mitbestimmung in jeglichen Alltagssituationen und die aktive Teilhabe an sozialer Interaktion zu ermöglichen. 34
Statt Lautsprache können folgende andere Kommunikationsformen zum Einsatz kommen:
- körpereigene Kommunikationsformen, zum Beispiel Mimik, Gestik und Gebärden;
- nichttechnische Kommunikationshilfen, zum Beispiel Symbolkarten oder -tafeln;
- elektronische Kommunikationshilfen, zum Beispiel sprechende Tasten, Sprachcomputer (auch mit Augensteuerung) oder andere Geräte.
Die Methoden der Unterstützten Kommunikation sind vielfältig. Unter dem nebenstehenden Link finden Sie beispielhaft ein Video über die Möglichkeit, mit den Augen zu buchstabieren. Im Bereich der Piktogramme werden vermehrt die Metacom-Symbole eingesetzt, die Sie in diesem Praxishandbuch teilweise als Textschmuck sehen. Hier der Link: https://metacom-symbole.de/
Bei weiteren Fragen können Sie sich beispielsweise an das Forschungs- und Beratungszentrum für Unterstützte Kommunikation an der Universität zu Köln wenden: https://bit.ly/3SyIEtH.
Alltagsroutinen entwickeln
Schaffen Sie im Alltag Routinen und Abläufe, um die Kommunikation aufrecht zu erhalten.
- Legen Sie einen Tag der Woche fest, an dem die Bewohner:innen gemeinsam einen Essensplan erstellen.
- Versuchen Sie, das Konzept „Gesundheit“ so gut wie möglich zu verbildlichen. Stellen Sie zum Beispiel Kochbücher zur Verfügung, in denen die Rezepte visualisiert oder mit Ampelfarben als ausgewogene und weniger ausgewogene Speisen gekennzeichnet sind (Beziehung zu Lebensmitteln aufbauen). Die Lernmaterialien aus dem Projekt GESUND! können auch an dieser Stelle Anwendung finden.
- Nehmen Sie auch die kleinen, alltäglichen Kommunikationssituationen als Gelegenheit wahr, die Bedürfnisse der Bewohner:innen wahr- und aufzunehmen. Das kann im Tür-und-Angel-Gespräch, aber auch in wöchentlichen Einzelgesprächen passieren.
Inhalte vermitteln
Auch für die Vermittlung von Inhalten ist es sinnvoll, auf bestimmte Methoden zurückzugreifen. Neben Schriftsprache ist es unerlässlich, Inhalte auch als Hörfassung anzubieten. Hörfassungen kommen für alle möglichen Texte in Frage, von Infomaterial über Kochrezepte bis hin zu Anleitungen zu Bewegungsübungen. Eine Hörfassung müssen Sie nicht mehr umständlich als CD oder digitale Datei erstellen. Eine recht unkomplizierte Lösung sind Hefte oder Bücher, die sich mit Vorlesestiften benutzen lassen.
Vorlesestifte können Sie individuell einrichten. Dazu bringen Sie an der gewünschten Stelle einen Sticker an und berühren diesen mit dem Stift. Nun haben Sie die Möglichkeit, den Text einzusprechen. Wenn Sie den Sticker erneut berühren, spielt der Stift die Aufnahme ab. Die Sticker können Sie beliebig oft mit neuen Aufnahmen versehen.
Bekannte Vorlesestifte sind der Anybook Reader von Betzold und der tiptoi von Ravensburger.
Kreativ werden
Entwickeln Sie eigene Ideen, die für Ihre Einrichtung und die Situation der Bewohner:innen am besten passen. Nehmen Sie sich dafür ausreichend Zeit. Gewohnheiten lassen sich nur schwer ändern – dasselbe gilt für Strukturen, die vielleicht seit Jahren genauso etabliert sind. Haben Sie Geduld mit allen Beteiligten. Aber gehen Sie trotzdem konsequent vor.
- Wie können Sie Menschen mit Lernschwierigkeiten in Wohneinrichtungen Chancen und verschiedene Lebensmodelle aufzeigen?
- Welche Angebote können Sie schaffen?
- Wie gestalten Sie auch herausfordernde Gesprächssituationen, ohne die Person zu beschämen oder ihre Selbstbestimmung zu beschneiden?
Solche und ähnliche Fragen beantworten Sie nicht an einem Tag. Denken Sie nach, probieren Sie aus, holen Sie Feedback ein, passen Sie die Strategie an. Sie sind auf dem richtigen Weg.
Personenzentrierte Planung
Um strukturiert herauszufinden, welche Wünsche und Interessen eine Person hat, eignen sich die Methoden der Personenzentrierten Planung.35 Für diese Methoden braucht es „zum einen Aufmerksamkeit und Zeit (...), zum anderen auch eine vorbehaltlose Unvoreingenommenheit, um diesen Erkundungsprozess konsequent am Individuum ausgerichtet zu gestalten (...) ."36 Einige dieser Methoden werden hier kurz vorgestellt. Bei Interesse finden Sie weitere Informationen in den Büchern und auf den Internetseiten, die unter Weiterführende Informationen angegeben sind.
Persönliche Zukunftsplanung
Die Persönliche Zukunftsplanung umfasst verschiedene Methoden, die dazu dienen, die Person im Mittelpunkt kennenzulernen. Gemeinsam können Sie deren Ziele entdecken und die Umsetzung der Ziele planen.
- „MAP – Making Action Plan“: Sie erkunden in einem sechsschrittigen Prozess die Träume, Albträume, Gaben und Geschichten der Hauptperson und erarbeiten gemeinsam, wie die Person diese Gaben in die Gemeinschaft einbringen kann.
- „PATH – Planning Alternative Tomorrows with Hope“: Dieser Prozess umfasst acht Schritte. Sie beginnen damit 1. die Werte und Ziele zu erkunden, die die Hauptperson leiten, um daraus 2. die Vision einer positiven Zukunft zu beschreiben. Mit dieser Vision erarbeiten Sie Maßnahmen, um die Zukunftsvision zu verwirklichen.
Weitere sogenannte „Mini-Methoden“ unterstützen den Prozess:
- „Eine Seite über mich“: Sie gestalten gemeinsam mit der Hauptperson ein Plakat, das die Stärken, Ressourcen, Vorlieben und Abneigungen der Person beschreibt.
- „Wichtige Menschen in meinem Leben“: Hierzu können Sie eine Plakat-Vorlage des „Netzwerks Persönliche Zukunftsplanung“ nutzen. Die planende Person steht als Name oder Foto im Mittelpunkt. Im Kreis rundherum platziert sie die Personen, die aktuell in ihrem Leben wichtig sind. So können Sie erkunden, wen die Person in einen Planungsprozess einbeziehen möchte und beispielsweise zu einer Lagebesprechung oder zu einem Unterstützungskreis einladen will.
- „Wichtige Orte“: Die Person zeichnet, klebt oder schreibt selbst oder mit Unterstützung die zentralen Orte auf,
- an denen sie sich gern aufhält und
- an denen sie eine bestimmte Rolle einnimmt (als Kund:in, Mitglied, Nachbar:in etc.).
- „Ein Tag in meinem Leben“: Die Person hält auf einem Plakat fest, wie ein normaler Tag aussieht. Neben den üblichen Abläufen werden dabei auch Pausen, Leerläufe und kleine Alltagsrituale deutlich.
- „Was ist der Person wichtig? Was ist für die Person wichtig?“: Mit diesen beiden Fragen können Sie mehrere Perspektiven nebeneinanderstellen: Was der Person selbst wichtig und bedeutend ist, sehen Angehörige oder Fachleute gegebenenfalls anders. Und Dinge, die Angehörigen und Professionellen wichtig erscheinen, sind für die Person selbst vielleicht eher unbedeutend.
Nutzen Sie für die Plakate je nach Vorliebe der Hauptperson unterschiedliche Materialien, etwa Fotos, Dekobilder, Klebebänder und verschiedene Stifte und Farben. Sie gestalten gemeinsam kreativ und lustvoll die Plakate. Über den Spaß, den Sie dabei erleben, erhalten Sie andere und neue Zugänge zur planenden Person.
Persönliche Lagebesprechung
Für die Persönliche Lagebesprechung trifft sich eine Gruppe ausgewählter Personen mit der planenden Hauptperson. Gemeinsam erarbeiten Sie einen aktuellen Überblick über die Lebenssituation und planen die nächsten Schritte.
Die Treffen bestehen aus insgesamt neun Elementen, die in drei Prozessphasen bearbeitet werden:
- Ankommen und Orientieren,
- Ideen zusammentragen,
- Aktionsplan erstellen.
Eine erfahrene Person moderiert die Lagebesprechung. Die Persönliche Lagebesprechung können Sie auch als Methode für einen Unterstützungskreis nutzen.
Unterstützungskreise
Die Hauptperson entscheidet, wer zu ihrem Unterstützungskreis gehört, zum Beispiel Freund:innen, Familienangehörige, Fachleute, Nachbar:innen oder andere Alltagskontakte. Mit ihnen gemeinsam denkt die Person über ihre nähere oder fernere Zukunft nach. Auch diese Treffen moderiert eine erfahrene Person, eine weitere Person hält die Ergebnisse auf einer Wand oder einem Plakat fest. Mit einem Unterstützungskreis entdecken Sie die Wünsche und Interessen der Hauptperson und stellen sicher, dass die Wünsche auch realisiert werden. Mit dem ersten Treffen beginnt daher oft ein Prozess: Sie entwickeln Ideen und vereinbaren, wie diese umgesetzt werden können.
Für den Unterstützungskreis sind keine Methoden festgelegt. Sie können neben der Persönlichen Lagebesprechung auch MAPS oder PATH nutzen. MAPS und PATH stellen allerdings hohe Anforderungen an die Hauptperson.
Sozialraumerschließung
Die Hauptperson erkundet und beschreibt – gegebenenfalls mit Unterstützung – ihren Sozialraum: Welche Orte sind wichtig? Gibt es Angsträume? Welche Bezüge bestehen ins Quartier?
Dazu eigenen sich beispielsweise
- eine Sozialraumbegehung,
- die Methode „Wichtige Orte in meinem Leben“ (unter Mini-Methoden),
- Kiezgänge zur Erstellung „Persönlicher Kiezkarten“.
Herausforderungen
Welche Herausforderungen bestehen bei den beschriebenen Methoden?
- Menschen mit Lernschwierigkeiten verfügen mitunter über andere Abstraktionsfähigkeiten, so dass ihnen das Nachdenken über die Zukunft und über deren Bedeutung schwerfallen kann.
- Menschen mit Lernschwierigkeiten haben oft jahrelange Erfahrungen in stationären Unterstützungssettings, so dass sie sich vielleicht erst an die Entwicklung eigener Ideen gewöhnen müssen.
- Bei der unterstützten Entscheidungsfindung mit Unterstützungskreisen besteht weiterhin die Gefahr, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht hinreichend einbezogen werden.37
- Alle Methoden benötigen Zeit- und Personalressourcen, die im Alltag nicht zur Verfügung stehen. Ist das der Fall, dann planen Sie stattdessen das nächste Bedarfsermittlungsgespräch nach den vorgestellten Methoden.
Manchmal wird es daher sinnvoll sein, die unterschiedlichen Methoden miteinander zu kombinieren und zusätzlich Alltagsbeobachtungen einfließen zu lassen.38
Stefan Doose (2013): „I want my dream!“ Persönliche Zukunftsplanung. Neue Perspektiven und Methoden einer personenzentrierten Planung mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. 10. Auflage. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher.
Milly Assmann (2011): Individuelle Lebensstilplanung (ILP) – ein Instrument zur personenzentrierten Unterstützungsplanung für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. In: Wolfram Kulig, Kerstin Schirbort und Michael Schubert (Hrsg): Empowerment behinderter Menschen. Theorien, Konzepte, Best-Practice. Stuttgart: W. Kohlhammer. S. 99–108.
Susanne Göbel und Josef Ströbl (2006): Persönliche Zukunftsplanung von Menschen, denen nicht zugetraut wird, dass sie für sich selbst sprechen können. Lebenshilfe-Verl, Marburg.
Netzwerk Persönliche Zukunftsplanung e.V.:
https://www.persoenliche-zukunftsplanung.eu/
Partizipative Workshops
Eine weitere Möglichkeit zur Wunsch- und Bedarfsermittlung sind Workshops. Vorteile von partizipativen Workshops sind,
- dass Sie die „Schwarmintelligenz“ nutzen können,
- dass Sie Angebote nicht am Bedarf vorbeiplanen, wenn Sie die Bewohner:innen von Anfang an mit ins Boot holen,
- dass Sie Bewohner:innen und Mitarbeitende gemeinsam erarbeiten lassen können,
- dass Sie Ideen erhalten, die Sie allein nicht hätten denken können.
Workshops lassen Sie am besten von einer erfahrenen Person moderieren. Denn insbesondere bei inklusiven und/oder partizipativen Workshops ist es wichtig, dass Sie Struktur und Inhalte anpassen und dass Sie alle Menschen tatsächlich beteiligen und deren Würde bewahren.
Struktur und Inhalte anpassen
- Vermeiden Sie Fachsprache. Nutzen Sie stattdessen Begriffe, die auch Menschen mit Lernschwierigkeiten verstehen können, die keine professionelle Ausbildung absolviert haben.
- Lagern Sie Fachdiskussionen gegebenenfalls aus. Möglicherweise möchten Sie während des Workshops auch ein Forum für Fachkräfte bieten, um über bestimmte Themen zu diskutieren. Bieten Sie in diesem Zeitfenster einen alternativen Programmpunkt für die teilnehmenden Menschen mit Lernschwierigkeiten. Es ist langweilig, in einer Diskussion zu sitzen, der man nicht folgen kann.
- Achten Sie auf leichte und wertschätzende Sprache. Im Idealfall gestalten Sie Workshops zur Bedarfsermittlung so, dass alle Beteiligten an allen Inhalten teilnehmen können. In diesen Situationen wird sich die Sprache möglicherweise ändern, weil oft anders mit Menschen gesprochen wird als über Menschen. Alle Teilnehmenden sollten bei ihren Redebeiträgen zudem darauf achten, sich leicht verständlich auszudrücken. Die moderierende Person kann am Ende einer Diskussion das Ergebnis noch einmal in leichter Sprache zusammenfassen.
- Nutzen Sie andere Unterstützung, etwa Symbolkarten. Visualisieren Sie beispielsweise die Tagesordnung, Fragestellung oder Ergebnisse mit Symbolkarten oder Piktogrammen.
- Wählen Sie geeignete Methoden aus. Überlegen Sie, welche Methode sich für Ihre Fragestellung eignet und welchen Abstraktionsgrad Sie den teilnehmenden Menschen mit Lernschwierigkeiten zumuten können. Unterstützen Sie Methoden wie Brainstorming oder Mind Mapping durch Symbolkarten oder andere Hilfsmittel.
- Passen Sie das Komplexitätsniveau an. Wenn Sie die Wünsche und Bedarfe der Menschen mit Lernschwierigkeiten erarbeiten möchten, dann müssen diese zwingend den Inhalten folgen können. Schließen Sie mit Ihren Fragen möglichst an die Erfahrungswelt der Bewohner:innen an.
- Führen Sie kürzere und dafür gegebenenfalls mehr Workshops durch. Das bietet sich insbesondere bei komplexen Themen an. Bei Workshops, die über mehrere Stunden gehen, lässt die Konzentration stark nach.
- Planen Sie ausreichend Pausen ein. Versetzen Sie sich in die Lage derjenigen Teilnehmenden, deren Aufmerksamkeit weniger lang anhält. Auch bei „kurzen“ Einheiten von anderthalb bis zwei Stunden sollten Sie ein bis zwei Pausen anbieten. Neben Toilettengängen ermöglichen Sie damit auch ungezwungenen Austausch. Jede Pause schafft Erleichterung und Platz im Kopf für weitere Inhalte.
- Bieten Sie verschiedene Formate an und halten Sie die rein kognitiven Inhalte kurz. Einem theoretischen Input zu folgen ist anstrengend und lässt die Aufmerksamkeit sinken. Planen Sie auch interaktive Methoden ein. Für längere Workshops können sich möglicherweise Kleingruppen eignen, die sich über bestimmte Erfahrungen und Fragestellungen austauschen. Wechseln Sie in jedem Fall passive (zuhörende) mit aktiven (gesprächigen) Anteilen ab.
Beteiligen und Würde bewahren
Ein Workshop, mit dem Sie die Wünsche und Bedarfe von Bewohner:innen erheben, hat ein eindeutiges Ziel. Gleichzeitig ist klar, dass die Bewohner:innen im Mittelpunkt stehen und Sie den Workshop an ihren Interessen und Kompetenzen ausrichten. Sobald Sie einen Workshop für Menschen mit und ohne Behinderung gestalten, können die nachfolgenden Hinweise hilfreich sein.
- Beziehen Sie alle Teilnehmenden mit ein. Lassen Sie niemanden außen vor. Planen Sie von Anfang an so, dass alle Teilnehmenden die Möglichkeit haben, den Inhalten zu folgen. Überlegen Sie, wie Sie die Tagesordnungspunkte zugänglich gestalten können.
- Planen Sie ressourcenorientiert und erkennen Sie die unterschiedlichen Kompetenzen der Teilnehmenden an. Akzeptieren Sie, dass Menschen unterschiedlich komplex denken und sprechen können. Wenn Sie Themen eingehend diskutieren und dabei auch auf die Meta-Ebene wechseln müssen, kündigen Sie das am besten vorher an. Bieten Sie Unterstützung zum Verständnis, etwa indem Sie selbst die Diskussionsergebnisse in leichter Sprache wiederholen oder indem Sie für Ihre Sitzungen Simultandolmetscher:innen für Leichte Sprache engagieren.
- Respektieren Sie alle Beiträge. Führen Sie niemanden vor. Das kann auch bedeuten, dass Sie sagen, wenn ein Wortbeitrag nicht zum Thema passt.
In NRW (Bonn) bietet zum Beispiel Anne Leichtfuß die simultane Übersetzung in Leichte Sprache an: https://www.leichte-sprache-simultan.de
Aber einfach nur zu sagen, die sind dabei, weil es gut aussieht, dafür brauche ich keinen Menschen mit Behinderung. (...) Das finde ich würdelos. Also wenn ich dann nur so tue und man führt dann auch Leute vor (...) Das merke ich auch so in diesen Gruppen, (...) da hat sich keiner getraut zu sagen: „Das passt jetzt nicht zum Thema.“ Da wurde immer noch so rumgeeiert und dann wurde das vom Moderator unten in die Ecke von der Flipchart geschrieben (...) „Ja, interessanter Aspekt, schreiben wir später auf.“
- Laden Sie mehrere Menschen mit Lernschwierigkeiten zu Ihren Workshops ein. In einer Peer Group (Peer-Support ermöglichen) fühlt man sich meist sicherer. Und Menschen mit Lernschwierigkeiten wissen in der Regel, in welcher Rolle andere Personen auftreten und ob diese ebenfalls eine Behinderung haben.
- Nutzen Sie Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht als „Alibi“ für Partizipation. Ein Workshop wird nicht dadurch inklusiv und partizipativ, dass dort Menschen mit Behinderung sitzen. Echte Teilhabe erreichen Sie nur durch ernsthafte Beteiligung.
- Finden Sie weitere Möglichkeiten für Beteiligung. Abgesehen von strukturierten Workshops zu bestimmten Themen können Sie auch in anderen Bereichen mehr Beteiligung ermöglichen. Diese Möglichkeiten werden von der Struktur Ihrer Einrichtung und Ihres Trägers abhängen. Ein Bewohner:innen-Rat, mehr gemeinsame Planung im Alltag oder eine Gruppe, die sich jeden Monat neue Aktionen zum Thema Gesundheit überlegt – Ihrer Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.