Gesundheitsfördernde Wohnsettings gestalten

Auf den vorangegangenen Seiten haben Sie viel darüber gelesen, wie mehr Selbstbestimmung in Wohneinrichtungen stattfinden kann. Immer wieder wurde dabei auch das Kernthema dieses Praxishandbuchs berührt: selbstbestimmte Gesundheit. Mit den folgenden Seiten können Sie überlegen, wie Sie die Gedanken zu Selbstbestimmung und Gesundheitsförderung zusammenbringen können und wie Sie als Leitung Ihre Mitarbeitenden dazu befähigen. Ziel soll sein, dass Ihre Einrichtung ein gesundheitsförderndes Umfeld bereitstellen kann.

Gesundheitsförderung besteht daraus, die beiden Bausteine Lebensumfeld und Gesundheitskompetenz zu fördern und zu gestalten. Explizit geht es dabei „nicht um die Anfertigung der richtigen Gesundheit, sondern um die Ermöglichung von vielfältigen Gesundheiten“.1 Menschen müssen dazu in einer Umgebung leben, die es ihnen erlaubt, Fähigkeiten zu entwickeln und ihr bestmögliches Potenzial zu entfalten. In diesem Kapitel wird beleuchtet, wie die strukturelle Umgebung und die individuelle Förderung zusammenhängen. Das Kapitel gibt konkrete Hinweise darauf, wie Sie Ihre Einrichtung entsprechend weiterentwickeln können. Dabei wird zunächst zwischen den beiden Phasen der Planung (Kapitel 5.1) und der Umsetzung (Kapitel 5.2) unterschieden. Die Kapitel 5.3 und 5.4 gehen spezifisch auf die Bereiche Bewegung und Ernährung ein, während in Kapitel 5.5 abschließend Gesundheit, Prävention und Motivation angesprochen werden.

Planung

Bevor Sie engagiert in die Umsetzung starten, ist es wichtig, auch einen Moment der Besonnenheit zu durchlaufen. In dieser Ruhe sollten Sie Ihre nächsten Schritte planen. Machen Sie sich bewusst, wohin die Reise gehen soll, und definieren Sie konkrete Ziele und Meilensteine. Im Projektmanagement wird die SMART-Formel genutzt, um Ziele zu definieren. Diese Vorgehensweise bietet auch für Ihre Situation eine gute Möglichkeit, genau festzulegen, was Sie erreichen möchten. Ohne aktive Planung wird ein Wunsch in der Regel nur ein Wunsch bleiben.

  • S wie Spezifisch: Definieren Sie Ihr Ziel möglichst präzise.
  • M wie Messbar: Prüfen Sie, dass sich Ihr Ziel messen lässt.
  • A wie Attraktiv: Gestalten Sie Ihr Ziel erstrebenswert.
  • R wie Realistisch: Beachten Sie, dass Ihr Ziel durchführbar ist.
  • T wie Terminiert: Versehen Sie Ihr Ziel mit einem fixen Datum.

Selbstbestimmte Gesundheitsförderung bedarf der gemeinsamen Anstrengung – die verantwortliche Planung innerhalb der Wohneinrichtung ist aber in der Regel Leitungssache. Daher ist dieses Kapitel in erster Linie für Leitungskräfte interessant, wobei einige Hinweise aber durchaus auch für Fachkräfte relevant sind.

Als Leitung kommt Ihnen die Aufgabe zu, das Gesamtkonzept Ihrer Einrichtung zu gestalten. Einzelne Mitarbeitende, so engagiert sie auch sein mögen, werden an der strukturellen Veränderung einer Einrichtung scheitern. Das Schiff müssen Sie als Leitung steuern. Entwickeln Sie Visionen für die Einrichtung und verdeutlichen Sie bereits bei Neueinstellungen, wie wichtig Ihnen die selbstbestimmte Lebensführung der Bewohner:innen ist. Dadurch schaffen Sie die ethischen Grundlagen für die Tätigkeit Ihrer Mitarbeitenden. Bei aller Verantwortung sollten Sie jedoch auch daran denken, die anderen Beteiligten einzubeziehen . Ihre Arbeit wird umso erfolgreicher werden, je erstrebenswerter die Ziele auch für die Mitarbeitenden sind. Wenn Mitarbeitende die Ziele mit entwickeln und eigene Ideen einbringen können, werden auch ihre Motivation und ihre Verbundenheit mit den gemeinsamen Zielen steigen. Ebenso wichtig ist die Partizipation der Bewohner:innen. Als Leitung setzen Sie den sprichwörtlichen Hut auf, räumen aber ein großes Maß an Mitbestimmung ein.

Wenn Sie kooperativ ohne Leitung arbeiten, dann planen Sie stattdessen gemeinsam. Bemühen Sie sich dabei um Konsens statt Kompromiss.

Vier wichtige Aspekte sollten bei der Planung berücksichtigt werden: Bedarfe zu erkennen, Individuen zu sehen, Zuständigkeiten zu klären und verbindlich zu planen.

Bedarfe erkennen

Menschen haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse und damit auch unterschiedliche Bedarfe – das gilt selbstverständlich auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Der erste Schritt Ihrer Planung ist daher, die Bedarfe Ihrer Zielgruppe zu erheben. Denken Sie dabei auch daran, dass Bedarfe sich ändern können. Haben Sie beispielsweise vor zwei Jahren einen Ideenworkshop zur Freizeitgestaltung durchgeführt, dann sollten Sie die Bedarfe erneut erheben, bevor Sie morgen ein neues Freizeit-Projekt starten. Bedarfe müssen sich aktualisieren können.

Umso wichtiger ist (…), dass man sich immer wieder damit auseinandersetzt und einfach auch das nicht so laufen lässt. Weil, ist die Frage, ob der Mensch dann wirklich so zufrieden ist oder ob er das nur macht, weil es Gewohnheiten sind.

Stakeholder:in (SH3_TI1, Pos. 22)

Bedarfen zu begegnen bedeutet genau das: einen Bedarf zu erkennen und ein passendes Angebot zu schaffen. Beherzigen Sie dazu auch in Gesundheitsfragen das Postulat der Selbstbestimmung: Fragen Sie, was die Bewohner:innen wollen, anstatt ihnen Ihre oder die Meinung der Fachkräfte „aufzuzwingen“.

Wenn Bewohner:innen ihre Bedarfe klar äußern, ist es sehr leicht, diese zu erkennen. Dann muss nur noch festgelegt werden, wie sich diese Wünsche umsetzen lassen. Stärker strukturierte Methoden zur Bedarfserhebung bei Gruppen und Einzelpersonen wurden bereits erläutert. Neben den dort aufgeführten Möglichkeiten können Sie auch Projekte zur Bedarfsermittlung beantragen oder als Fachkraft die Bedarfsermittlung der Leistungsträger nutzen. In NRW hat beispielsweise das Bedarfsermittlungsinstrument (BEI_NRW) die alte Hilfeplanung abgelöst. Für individuelle Zukunftsperspektiven machen Sie es sich zur Gewohnheit, in diesen Gesprächen auch die Bereiche Gesundheit, Bewegung und Ernährung abzudecken.

Haben Sie beispielsweise mit den Bewohner:innen erarbeitet, wo und wie sie Sport treiben möchten, dann können Sie mit diesen Ergebnissen an Vereine oder Sportbünde herantreten. Unter dem folgendem Link finden Sie Informationen zum Landessportbund NRW sowie zu Vereinsregistern https://www.lsb.nrw/ Dieser Schritt fällt schon in den Bereich der Umsetzung, soll aber an dieser Stelle verdeutlichen, wie nachhaltig und weitreichend Sie die Ergebnisse nutzen können. Reflektieren Sie zudem immer wieder, ob die bestehenden Angebote noch den Bedarfen der Bewohner:innen entsprechen.

Nutzen Sie auch bestehende Hilfsmittel wie das Bedarfsermittlungsinstrument der Leistungsträger!

Individuen sehen

Übergeordnet wollen Sie das gesamte Wohnsetting gesundheitsfördernder gestalten. Die Bewohner:innen sollen dabei selbstbestimmt ihre Lebensvorstellungen umsetzen können. Gerade beim Thema Selbstbestimmung kommt somit den Einzelpersonen eine wichtige Rolle zu. Indem Sie auf das Individuum achten, beziehen Sie sich auf die Interessen und Geschmäcker der Personen, wenn Sie neue Angebote gestalten.

Die Menschen, mit denen Sie arbeiten, teilen das Etikett „geistige Behinderung“ oder Lernschwierigkeiten. Alle Menschen möchten aber als Individuen wahrgenommen werden – Sie selbst ebenso wie die Menschen, die Sie täglich unterstützen. Stereotype und Verallgemeinerungen sind in dieser Hinsicht unangebracht: Als Fach- und Leitungskräfte in Wohneinrichtungen wissen Sie so gut wie niemand sonst, dass eine homogene Masse der „Menschen mit geistiger Behinderung“ nicht existiert. Wer existiert, das sind Frau Gümbel, die gerne ausschläft, Pfannkuchen mag und am Wochenende ein Bierchen trinkt; Herr Brakol, der mit seinem Rollstuhl am liebsten auf Konzerten unterwegs ist und jeden Monat seine Schwester besucht; Frau Wortmann, die sich in der inklusiven Sportgruppe pudelwohl fühlt und gerne ganz in Ruhe puzzelt; und so weiter.

In Einzelsettings fällt es in der Regel leichter, Individuen wahrzunehmen und gemeinsam individuelle Perspektiven zu entwickeln. Viele Fachleute sehen daher auch die neuen Leistungsformen mit den bereits genannten Bedarfsermittlungsinstrumenten als positiv an. Diese strukturelle Entwicklung vereinfacht die personenzentrierte Planung. Als Fachkraft sind Sie damit in der Lage, die Wünsche der Bewohner:innen strukturiert aufzunehmen und im Anschluss deren Umsetzung zu planen.

Zuständigkeiten klären

Fachkräfte sind ein wichtiger Zugang zu gesunder Lebensführung (Personal). Um Gesundheitsförderung und Prävention erfolgreich zu verankern, müssen sich allerdings mehrere oder im besten Fall alle Mitarbeitenden verantwortlich fühlen. Selbstbestimmte Gesundheitsförderung und Prävention wird scheitern, wenn sie vom Engagement einer Person abhängt. Verteilen Sie die Verantwortung daher auf mehrere Schultern und Köpfe – auch auf Personen, die nicht unmittelbar zum Mitarbeitenden-Team gehören: Gesundheitsförderung ist auch Vernetzung und Netzwerkarbeit.

Am besten verteilen Sie die Verantwortung, indem Sie erstens alle Mitarbeitenden gedanklich mit ins Boot holen und ihnen zweitens bestimmte Zuständigkeiten zuweisen. Eine Gruppenleitung kann möglicherweise die Koordination übernehmen oder selbst einem Bereich zugeordnet sein. Als Anregung können die folgenden Szenarien dienen:

  • Sie beschäftigen Verantwortliche für die Bereiche Ernährung und Bewegung. Dies können sowohl entsprechend ausgebildete Fachkräfte als auch pädagogische Fachkräfte mit Weiterbildung sein. Wichtig ist, dass diese Personen verbindlich für ihren Bereich zuständig sind.
  • Sie setzen Fachkräfte ein, die gruppenübergreifend für die Themen Bewegung und Ernährung zuständig sind und als niederschwellige Ansprechpersonen dienen.
  • Sie gestalten die Aufgaben der Hausmeister:innen und Hauswirtschaftskräfte neu und beziehen diese stärker in den Alltag ein (Personalressourcen bereitstellen).
  • Sie stellen eine:n Mitarbeiter:in für Gesundheitskoordination ein. Die Stelle kann als Knotenpunkt für verschiedene Themen dienen. Indem Sie beispielsweise Inklusion, Teilhabe, Digitalisierung und Gesundheitsförderung gezielt miteinander verknüpfen, erreichen Sie innerhalb des gesamten Trägers Multiplikation.
BEST PRACTICE: ERNÄHRUNGSEXPERTISE

Der fachliche Background ist super gut!“„Seit einem halben Jahr arbeitet eine Ökotrophologin bei uns in der Tagesbetreuung. Obwohl wir schon immer Wert auf gesunde Ernährung gelegt haben, hat sie hier schon viele neue Dinge implementiert und wir sind seitdem noch ein bisschen vielfältiger geworden: Wir kochen Marmelade, wir machen Kakao selbst, wir mischen das Müsli selber – das kommt sehr gut bei den Leuten an. Einige finden es ein bisschen schwierig, sich auf was Neues einzulassen, aber ein Großteil ist viel offener geworden. Bestimmte Dinge erhalten durch die Fachkraft auch eine andere Wertigkeit: Die Teilnehmenden greifen zum Beispiel viel häufiger zu Vollkornprodukten, seit die Ökotrophologin diese besonders anpreist.Die Ökotrophologin arbeitet übergreifend auch für das angegliederte Wohnheim und die drei Wohngruppen. Alle Neuerungen bringt sie also auch dort mit ein. Ich muss ganz ehrlich sagen: Das hätten wir uns eigentlich nicht erträumt. Es war zwar klar, dass wir sehr viel Positives daraus ziehen würden und das hier selber auch umsetzen wollen. Aber dass wir jetzt hier diesen fachlichen Background haben – das ist super gut!

Marion Martinetz, Gruppenleitung Tagesbetreuung, Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen-Süd

Achten Sie darauf, dass sich die zuständigen Personen untereinander absprechen. Legen Sie Vertretungen fest, die im Fall der Abwesenheit beispielsweise ein Sportangebot weiterführen können. Beziehen Sie auch die jungen Freiwilligen mit ein! Solche eigenständigen Aufgaben können großen Spaß machen. Durch den Austausch untereinander sorgen Sie dafür, dass Sie das

Verbindlich planen

Gesundheitsfördernde Wohnsettings sollten Sie auf Leitungsebene planen, dabei aber allen Beteiligten ein Mitsprachrecht ermöglichen. Dennoch kann eine verbindliche Anordnung „von oben“ zielführend sein. Wenn allen Beteiligten klar ist, dass selbstbestimmte Gesundheitsförderung einrichtungs- oder trägerweit gewünscht ist, schaffen Sie damit sowohl die mentalen als auch die konzeptionellen Voraussetzungen. Findet zusätzlich ein regelmäßiger Austausch auf Leitungsebene statt, kommt es möglicherweise zu einem positiven Wettbewerb. So mehren sich auch die Erfolgsgeschichten. Halten Sie daher das Thema weit oben auf der Tagesordnung.

Verankern Sie geplante Maßnahmen auch strukturell und verknüpfen Sie diese möglichst im gesamten Träger. So sorgen Sie für die Multiplikation von Ideen und Angeboten. Ernährung und Bewegung sind zwar Alltagsthemen, die jede:n betreffen, aber dennoch wenig Aufmerksamkeit erfahren. Bieten Sie daher Schulungen an, in denen Mitarbeitende ihr Gesundheitswissen auffrischen und ihre Einstellungen reflektieren können. Denken Sie schon zu Beginn des Vorhabens daran, wie Sie Wissen verstetigen und Projekte nachhaltig implementieren können. Prüfen Sie, ob sich Ihre Ideen auch weiterhin im Alltag umsetzen lassen.

Sie wollen Wissensgrundlagen für selbstbestimmte Gesundheitsförderung schaffen und Sie wollen den Zugang zu bestimmten Angeboten ermöglichen. Sie wollen Chancen und Kompetenzen verbessern, ohne die Bewohner:innen zu „Gesundheit“ zu zwingen. Daher sollten Sie am Anfang des Prozesses ebenfalls darüber nachdenken, wie Sie einen pädagogischen Zeigefinger vermeiden können. Planen Sie Maßnahmen am besten über mehrere Monate oder ein ganzes Jahr. So können alle Beteiligten ihr Wissen in kleinen Umfängen erweitern und immer wieder erneuern. Vielleicht entwickeln Sie auch kreative Ideen, um das Thema zwischen einzelnen Einheiten aktuell zu halten.

Alle Aufgaben, die über die bisherige Planung hinausgehen, erfordern entweder mehr oder anders strukturierte Personalstunden (Personalressourcen bereitstellen). Bedenken Sie dabei auch die Vor- und Nachbereitung sowie die Begleitung bestimmter Maßnahmen. Wollen Sie etwa den Bereich Digitalisierung voranbringen, benötigen Sie auch Personal, das sich um einführende Schulungen und begleitende Unterstützung kümmern kann (Digitalisierung nutzen). Wichtig ist jedoch, dass es sich lediglich um eine Erweiterung der bisher geplanten Aufgaben handelt – und nicht um Leistungen, die zusätzlich zum Alltag erbracht werden. Ernährung und Bewegung und damit auch Gesundheitsförderung gehören fraglos zum Alltag dazu, unabhängig davon, ob diese Bereiche aktuell angemessene Aufmerksamkeit erhalten (Was ist Alltag?).

In den vorangegangenen Abschnitten ging es vor allem um die strategische Planung für ganze Einrichtungen. Doch auch mit einzelnen Bewohner:innen können Sie verbindliche Maßnahmen festlegen. Dies kann angebracht sein, wenn Bewohner:innen beispielweise eine Ernährungsberatung oder eine Assistenz für bestimmte Angebote beantragen möchten. Zwischen den fixen Terminen zur Bedarfsermittlung können Sie sich auch regelmäßig, zum Beispiel wöchentlich, mit den Bewohner:innen zum Austausch treffen und über Ziele, Möglichkeiten und den aktuellen Gesundheitszustand sprechen.

Im Alltag liegt es an Fachkräften, die Themen Selbstbestimmung und Gesundheitsförderung zu gestalten, denn sie sind auf der operativen Ebene für die Umsetzung verantwortlich. Als Leitung verlangen Sie von Ihren Mitarbeitenden, dass sie mit den Bewohner:innen individuell arbeiten und eine eigene fachlich-reflektierte Meinung zum Thema Gesundheitsförderung haben. Die Fachkräfte tragen daher ebenfalls Verantwortung – aber keine alleinige Verantwortung. Für diese Anforderungen müssen Sie ihnen den entsprechenden Raum und die Voraussetzungen geben.

Für den Alltag ist insbesondere eine gute tägliche Organisation wichtig. Um die Bewohner:innen bestmöglich zu unterstützen, müssen Fachkräfte zusammenarbeiten und Informationen auch kurzfristig weitergeben können. Nutzen Sie dafür beispielsweise die Informationssysteme, die Sie bereits verwenden, etwa Ihre interne Dokumentationssoftware. Arbeiten Sie mit Kalender- und Erinnerungsfunktionen. Oder denken Sie sich eine andere Strategie aus – wichtig ist, dass die Bedürfnisse der Bewohner:innen und die vereinbarten Maßnahmen präsent sind und dass sie allen Unterstützungspersonen zugänglich sind.

Umsetzung

Ein guter Plan ist das solide Fundament, auf das Sie Ihre Veränderungen bauen. Für die Planung lassen Sie sich ausreichend Zeit und holen auch andere Beteiligte mit ins Boot. Von der Planung sollten Sie zeitnah ins Handeln kommen. Auf den folgenden Seiten wird aufgezeigt, welche Aspekte Sie bei der Umsetzung Ihrer Pläne beachten sollten. Themen, die auf Leitungsebene zu erarbeiten sind, werden ebenso angesprochen wie die alltägliche Praxis der Fachkräfte. Die Unterkapitel zu Bedarfen sowie zum Austausch sind zusätzlich aufschlussreich für Anbieter, etwa Sportvereine oder Bildungseinrichtungen.

Wünsche umsetzen

Wenn in diesem Praxishandbuch davon gesprochen wird, Wünsche umzusetzen, dann sind realistische und tatsächlich umsetzbare Wünsche gemeint, die im Zusammenhang mit gesunder Lebensführung stehen. Besteht beispielsweise der Wunsch, Wasserpolo zu spielen, aber in der Region existiert kein Verein für Wasserpolo – dann wird dieser Wunsch nahezu unmöglich zu erfüllen sein.

Gleichzeitig sollten Sie sensibel darauf achten, dass Widrigkeiten keine fortwährende Entschuldigung sind, um einen Wunsch unerfüllt zu lassen. Die Voraussetzungen für selbstbestimmte Gesundheit sind an vielen Stellen ungünstig – aus dieser Einsicht heraus ist auch dieses Praxishandbuch entstanden. Bemühen Sie sich jedoch, ehrlich zwischen „unrealistisch“ und „unbequem“ zu unterscheiden.

Sobald Bewohner:innen ein neues realistisches Ziel äußern, sollten Sie die Initiative ergreifen. Planen Sie gemeinsam Maßnahmen, um das Ziel zu erreichen, hinterlegen Sie Ziele und Maßnahmen digital (in Ihrem gemeinsamen Kalender oder in der Dokumentationssoftware) und sorgen Sie dafür, dass die anderen Fachkräfte ebenfalls Bescheid wissen. Für diesen Prozess benötigen Fachkräfte ein entsprechendes Wissen. Nur so sind sie in der Lage, den Bewohner:innen aufzuzeigen, wie sie einen Wunsch verwirklichen können. An wen kann man sich wenden? Wo kann man sich informieren? Wie könnte das finanziert werden?

Einige Ziele halten Sie vielleicht im Bedarfsermittlungsinstrument fest. Denken Sie daran, dass diese Ziele in der Regel für einen längeren Zeitraum festgelegt werden. Bewohner:innen sollten dort nur Maßnahmen eintragen, die sie sicher umsetzen wollen. Günstig ist daher, wenn die Bewohner:innen vor der Beantragung von Maßnahmen die Gelegenheit haben, bestimmte Aktivitäten auszuprobieren und zu entscheiden, ob sich die verbindliche Festlegung lohnt. Bevor beispielsweise „Tennisspielen“ als Ziel festgesetzt wird, lohnt sich in jedem Fall ein Schnuppertraining.

Manche Wünsche haben jedoch eine eingebaute Bremse: Zu bestimmten Aktivitäten kann man sich nur schwer motivieren, ganz gleich, wie stark der Wunsch dahinter ist. Insbesondere bei eher unbequemen Vorhaben benötigen Menschen daher gegebenenfalls mehr oder weniger starke Motivationshilfen. Bei einigen Menschen kommt beispielsweise das Thema Gewichtsverlust auf. Damit hängen wiederum mehr Bewegung und eine Ernährungsumstellung zusammen. In Wohneinrichtungen erfordert die Umsetzung eine besondere Planung: Welche Unterstützung wünschen sich die Bewohner:innen? Wie können Sie diese Unterstützung auch im Ambulant Betreuten Wohnen gewährleisten, wo Dienstzeiten in der Regel nur einen Teil des Tages abdecken? Wie können Menschen ihre Selbstdisziplin stärken – oder stattdessen Spaß an der Bewegung entwickeln? Finden Sie gemeinsam mit den Bewohner:innen heraus, welche Unterstützung individuell zielführend ist. Die Bandbreite reicht von persönlicher Ansprache über Wochenpläne und digitale Erinnerungsfunktionen bis zu allen Lösungen, die Sie zusätzlich finden können.

Auch kleinere Wünsche können in stationären Einrichtungen große Änderungen voraussetzen. Je nach Struktur kann es etwa für Bewohner:innen schwierig sein, auf Fleisch zu verzichten. Wenn Sie Mahlzeiten über eine zentrale Versorgung organisieren, dann müssen Sie möglicherweise in diesem Ablauf Anpassungen vornehmen. Andere Wünsche bergen hingegen das positive Potenzial, in gemeinsame Aktivitäten übersetzt zu werden. Geht ein:e Bewohner:in beispielsweise gerne wandern und steckt mit der Begeisterung auch andere Bewohner:innen an, könnten sie eine Wandergruppe gründen und regelmäßige Touren unternehmen.

Assistenz geben

„Menschen mit Behinderung“ sind eine äußerst heterogene Gruppe. Auch ihr Assistenzbedarf stellt sich ganz unterschiedlich dar: Einige Menschen sind selbstständig in der ganzen Stadt unterwegs, während andere nur mit Begleitung die Wohneinrichtung verlassen können oder wollen. Sie sind darauf angewiesen, für bestimmte Tätigkeiten Assistenzstunden zu beantragen. Dadurch sind sie in ihrer Freizeitgestaltung weniger flexibel als andere Menschen. So kann beispielsweise ein Besuch im Schwimmbad voraussetzen, dass eine Assistenzperson mitgeht. Assistenz kann aber auch für die Teilnahme an Sportkursen wichtig sein oder um zu Hause Bewegungsübungen durchzuführen.

Diese Assistenzstunden bewilligt zu bekommen, ist manchmal eine Herausforderung. Zudem muss die Kostenübernahme auch für eher nebensächliche Tätigkeiten geklärt sein: Wer hilft bei der Recherche nach bestimmten Angeboten? Wer unterstützt bei der Kontaktaufnahme mit Sportvereinen? Wer übernimmt die Begleitung bei neuen Vorhaben? Fachkräfte agieren auch dann als Assistenz, wenn sie Teilhabemöglichkeiten im Sozialraum aufzeigen.

Insbesondere Vorhaben, die mit (Ess-)Gewohnheiten und Körperbild zusammenhängen, können sensible Themen sein. In der unterstützenden Rolle, die Fachkräfte einnehmen, gilt es daher, konstruktiv und wertschätzend zu bleiben. Überlegen Sie, welche Kommentare über Ihren Körper Sie sich von Fremden oder Bekannten wünschen. Eine Faustregel für entsprechende Situationen in der Wohngruppe kann sein, Ihre eigenen Grenzen als Maßstab zu nehmen. Frei nach der Goldenen Regel: „Was du nicht willst, dass man dir tu…!“

Weitere Hinweise, auch zur Beantragung externer Assistenz, finden Sie unter Kapitel 6.9: Assistenz einplanen

Unterschiedliche Bedarfe beachten

Menschen haben ebenfalls unterschiedliche Bedarfe in Bezug auf Angebote und Assistenzleistungen. Alter, Mobilität oder Kommunikation sowie körperliche und psychische Voraussetzungen haben einen Einfluss darauf, welche Barrieren Menschen erleben.

Anbieter von Sport- und Bewegungsprogrammen sollten zunächst auf die körperlichen Voraussetzungen achten. Welche Bewegungen sind zumutbar? Wo über- oder unterfordert ein Angebot die Teilnehmer:innen? Für viele Bewegungen lassen sich Alternativen finden. Yoga oder Gymnastik kann beispielsweise auch von Personen im Rollstuhl oder mit Rollator ausgeübt werden, wenn sie die entsprechende Anleitung erhalten. In dem besonderen Fall, dass Sie Videos zu Bewegungsübungen drehen: Denken Sie daran, dass Sie auch Menschen im Rollstuhl oder mit Rollator zeigen. Die Erfahrung, dass Übungen sich nur an gehende Menschen richten, kann ein Gefühl der Ausgeschlossenheit hervorrufen.

Viele Sportarten lassen sich mit oft nur minimalem Aufwand für mehr Menschen öffnen: Wählen Sie beispielsweise für den Lauftreff eine Strecke, die man auch mit dem Handbike befahren kann.

Verschiedene Sportarten haben jedoch unterschiedliche Voraussetzungen. Der Deutsche Behindertensportverband (DBS) hat zu diesem Zweck ein Ampelsystem entwickelt. Anhand von Symbolen wird dargestellt, welche Sportarten für Menschen mit einer bestimmten Beeinträchtigung geeignet sind und welche sich eher als schwierig erweisen. Damit haben Sportvereine die Möglichkeit, ihre Angebote entsprechend zu kennzeichnen (Das Handbuch Behindertensport vom DBS).

Sowohl in der Wohneinrichtung als auch bei externen Angeboten sollten Sie beim Umgang mit technischen Geräten die Vorkenntnisse der Nutzer:innen, aber auch deren Alter berücksichtigen. Viele jüngere Menschen mit Lernschwierigkeiten sind mit Smartphones, Computern und ähnlichem aufgewachsen und daher in der Lage, diese Geräte selbstständig zu bedienen. Auch im Bereich der Unterstützten Kommunikation werden immer mehr Apps genutzt, die viele Leute gut bedienen können. Jeder Mensch hat in Bezug auf Technik einen anderen Unterstützungsbedarf.

Ähnlich verhält es sich beim Thema Mobilität. Wenn Bewohner:innen planen, an einem externen Angebot teilzunehmen, muss auch die Beförderung zu diesem Angebot geklärt sein (Personalressourcen bereitstellen und Finanzierung sicherstellen). Viellicht kommt Frau Meier selbstständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Turnverein, aber Frau Niedecken benötigt einen Fahrdienst oder Begleitung, um zu ihrem Kurs in der VHS zu fahren, da sie mit ihrem Rollstuhl nicht alleine in den Bus kommt. Eine Möglichkeit, dieser Herausforderung zu begegnen, sind Vor-Ort-Angebote in der Einrichtung (Angebote initiieren). Überlegen Sie mit den Bewohner:innen, inwiefern diese Möglichkeit in Betracht kommt oder ob Sie stärker die Öffnung in den umgebenden Sozialraum fokussieren wollen (Sozialraum erkunden).

Diese unterschiedlichen Bedarfe sollen nur als Beispiel dienen. Nehmen Sie darüber hinaus auch die weiteren Bedarfe der individuellen Bewohner:innen wahr. Informationen zu Kommunikationsbedarfen finden Sie unter Angemessen Informieren, Kommunikation unterstützen und Barrierefreiheit ausbauen.

Austausch suchen

Ein Setting oder eine Lebenswelt bezieht sich „auf die Rahmenbedingungen, unter denen Menschen leben, lernen, arbeiten und konsumieren“2 (Gesundheitsfördernde Lebenswelten). Um gesundheitsfördernde Wohnsettings für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu schaffen, müssen diese Rahmenbedingungen positiv und nachhaltig verändert werden. Austausch ist in diesem Kontext daher auf mindestens drei Ebenen wichtig: innerhalb der Einrichtung, zwischen Einrichtung und weiteren Organisationen im Sozialraum sowie zwischen den Organisationen im Sozialraum.

Innerhalb des Trägers oder der Einrichtung können Sie beispielsweise Angebote absprechen oder Geräte und Materialien gemeinsam anschaffen. Laufen im Träger mehrere Projekte zu ähnlichen Inhalten, sollten Sie diese Projekte miteinander verknüpfen. Sorgen Sie auch dafür, dass Teams untereinander kooperieren und sich austauschen. Dies gilt besonders für unterschiedliche Professionen, etwa wenn Sie Hauswirtschaftskräfte stärker einbinden (Personalressourcen bereitstellen). Diesen Austausch innerhalb des Trägers sollten Sie planen und gestalten. Überlegen Sie, welche Form sich für Ihre Einrichtung eignet. Vielleicht lachen Sie hin und wieder über Vorhaben, die Sie ausprobieren – wenn Sie aber regelmäßig ein solches Austauschforum bieten, dann gelangen die Mitarbeitenden auch schnell vom Lachen in ein ernsthaftes Berichten.

Ebenso wichtig ist der Austausch mit externen Organisationen. Damit sind alle Organisationen gemeint, die sich im Sozialraum befinden und einen Bezug zum Thema Gesundheitsförderung haben. Mit dieser Öffnung bewegen Sie sich aus dem Kosmos der Wohneinrichtung in den umgebenden Sozialraum, was für die Weiterentwicklung von Lebenswelten unerlässlich ist. Gestalten Sie diesen Austausch möglichst unabhängig von Einzelpersonen. So können Sie weiterhin mit einer Organisation zusammenarbeiten, wenn der ursprüngliche Kontakt wegfallen sollte. Begreifen Sie Austausch als eine Art Haltung, die Sie in Ihrer Organisation etablieren.

Suchen Sie zum Beispiel Kontakt…

  • zum nahegelegenen Supermarkt, um Einkaufstouren zu entwickeln.
  • zu einem Hofladen, um dort möglicherweise auch Mitarbeit beim Ernten und Packen auszuhandeln.
  • zu den regionalen Sportbünden oder Sportvereinen. Wenn die Bewohner:innen ihre konkreten Wünsche und Bedarfe an dieser Stelle anbringen können, sind die Vereine wiederum besser in der Lage, passgenaue Angebote zu schaffen. Diese direkten Rückmeldungen wecken bei den Vereinen das Bewusstsein, dass eine Nachfrage besteht, die ein entsprechendes Angebot erfordert. Möglicherweise lässt sich auch der Informationsfluss verbessern, so dass die Vereine ohne Umwege die Bewohner:innen über bestimmte Angebote informieren können. Ein solches Vorgehen würde auch die Fachkräfte entlasten.

Suchen Sie diesen Austausch aktiv, anstatt darauf zu warten, dass andere Organisationen zu Ihnen kommen. Im schlimmsten Fall passiert das nie – obwohl Sie doch jetzt etwas ändern wollen! Als externe Organisation können Sie jedoch auch selbst Kontakt zu Wohneinrichtungen aufnehmen, wenn Sie der Meinung sind, dass eine Zusammenarbeit fruchtbar sein könnte.

Idealerweise findet ein Austausch zwischen den verschiedenen Anbietern regional statt. So arbeiten Sie in ähnlichen und damit bekannten Strukturen. Alle Organisationen, die mit dem Thema Gesundheitsförderung zu tun haben, können gewinnbringend kooperieren.

  • Nehmen Sie als Sportbund Kontakt zu den Fachverbänden auf, um Expertise im Bereich Behinderung einzuholen oder Netzwerktreffen zum Thema Inklusion zu unterstützen. Mögliche Ansprechpartner sind hier Special Olympics oder die örtlichen Behindertensportverbände (in Nordrhein-Westfalen etwa der BRSNW – weitere Adressen auf unter Kapitel 7.3.4: Fachverbände).
  • Als Sportbund lohnt sich ebenfalls der Austausch mit Beratungsstellen oder Selbsthilfeeinrichtungen, um Informationen über mögliche Sportangebote zielgenau zu verbreiten.
  • Als Sportbund können Sie auch auf Schulen zugehen, um Kooperationsmöglichkeiten abzuwägen. So wird es bereits für Kinder und Jugendliche selbstverständlich, dass Bewegung zum Leben dazugehört und sie in ihrem örtlichen Sportverein die passenden Angebote dazu finden.
  • Wenn Sie als Ernährungsberater:in tätig sind, können Sie bei den Ärzt:innen in Ihrem Umfeld vorstellig werden und dort Informationen hinterlassen oder mit Sportvereinen kooperieren, was gerade für Kurse zu gesunder Lebensführung relevant sein kann.
  • Volkshochschulen und andere Bildungseinrichtungen können mit verschiedenen Organisationen kooperieren – mit den Wohneinrichtungen ebenso wie mit Schulen, Werkstätten, Transportunternehmen oder Selbstvertretungsorganisationen.
  • Genauso können selbstverständlich die Schulen oder Werkstätten auf vielversprechende Kooperationspartner zu

Möglicherweise finden Sie für Ihre Organisation noch weitere als die genannten Möglichkeiten, um in einen produktiven Austausch zu gelangen. Über den bilateralen Austausch hinaus bietet es sich an, ein Netzwerk oder einen Runden Tisch ins Leben zu rufen. Solche Zusammenschlüsse geben Ihnen die Gelegenheit, Menschen und Organisationen zusammenzubringen, die ansonsten nicht selbstverständlich zusammenarbeiten würden. So können alle Beteiligten ihre Perspektive erweitern. Ein weiterer Vorteil: Wenn Sie sich untereinander bereits kennen, ist es leichter, die passenden Personen auf kurzem Dienstweg direkt anzusprechen. Sollten Sie dann konkrete Kooperationen oder Veranstaltungen planen, verschenken Sie keine wertvolle Zeit mit Kontaktaufbau, sondern können sofort inhaltlich starten.

Nutzen Sie Runde Tische,

  • um Ihre Organisation bei den anderen bekannt zu machen,
  • um Informationen weiterzugeben, zum Beispiel zum Stand von eigenen Projekten, zu Veranstaltungen oder zu Ausschreibungen,
  • um sich über Weiterentwicklungsmöglichkeiten auszutauschen oder
  • um ganz konkrete Fragen zu klären – etwa, wie sich Sportarten anpassen oder erweitern lassen, wie Sie mit den Themen Brandschutz und Versicherung umgehen oder wie Sie Ihren nächsten Sporttag gemeinsam planen.

Neben den regelmäßigen, größeren Treffen sollten Sie auch die Möglichkeit zu einem „Zwischendurch-Austausch“ planen, um in Einzelgesprächen oder kleinen Diskussionsrunden Ideen zu generieren und Anregungen mitzunehmen – oder einfach, um wieder neue Motivation zu tanken. Sorgen Sie dafür, dass durch einen regelmäßigen Austausch die Kommunikation untereinander relativ offen wird, damit die Beteiligten vertrauensvoll über mögliche Herausforderungen sprechen und darauf angemessen reagieren können. Tauschen Sie sich darüber aus, was bei einem Projekt gut geklappt hat und wo Sie Verbesserungspotenzial sehen. Sollten Sie das Netzwerk als Teil eines zeitlich begrenzten Projektes aufgebaut haben, dann halten Sie den Austausch auch über das Projektende hinaus aufrecht.

Im besten Fall schaffen Sie es, dass alle Organisationen und Initiativen im näheren Umkreis voneinander wissen und untereinander vernetzt sind, so dass Synergien und Kooperationen entstehen können.

Und wir merken halt immer, dass es viele kleine Initiativen gibt, aber die sind halt selten irgendwie gebündelt in einem Netzwerk. Da macht jemand mal ein bisschen was hier, da macht jemand mal ein bisschen was da. Aber (…) dass die alle voneinander wissen, dass man die alle dann auch aufeinander verweisen kann (…), solche Netzwerke sind glaub ich noch relativ selten.

Stakeholder:in (SH17TI220210618, Pos. 56)

Bewusstsein erhalten

Bewusstsein beschreibt in diesem Kapitel zweierlei: Einerseits sind damit die Reflexionsbereitschaft der Mitarbeitenden und ihre Haltung zum Thema Selbstbestimmung gemeint. Andererseits beschreibt es ein Bewusstsein für Gesundheit, das alle Beteiligten nachhaltig entwickeln sollten.

Das Bewusstsein der Mitarbeitenden zum Thema Selbstbestimmung lässt sich beispielsweise über regelmäßige Schulungen aufrechterhalten. Die eigene Haltung zu reflektieren wird so zu einem selbstverständlichen Teil der Arbeit.

Abbildung 7 Mögliche Fragen einer Selbstreflexion zum Thema Selbstbestimmung

Auch Projekte stellen eine sinnvolle Möglichkeit dar, das Bewusstsein der Mitarbeitenden zu schulen. Dadurch erhalten sie Input und oftmals auch ein externes Feedback. Überlegen Sie, wie Sie dieses Bewusstsein aufrechterhalten können, wenn das Projekt ausgelaufen ist.

Den zweiten Aspekt, nämlich ein nachhaltiges Bewusstsein für Gesundheit zu schaffen, erreichen Sie ebenfalls über Regelmäßigkeit. Als Leitung können Sie dafür sorgen, dass Sie das Thema immer wieder ansprechen. Wenn es im wöchentlichen oder monatlichen Turnus besprochen wird, bleibt das Thema auch in den Teams präsent. Sie erleichtern damit auch denjenigen Mitarbeitenden die Arbeit, die gesunde Lebensführung ohnehin als wichtiges Thema erachten. Als Leitung geben Sie diesen Mitarbeitenden Rückhalt und bestärken sie darin, sich für „ihr“ Thema einzusetzen.

Planen Sie als Leitung mit den Mitarbeitenden gemeinsam, wie Sie Routinen und grundlegende Prinzipien im Alltag verankern können. Überlegen Sie, wie sich die komplexen Gesundheitsthemen so vereinfachen lassen, dass sie gut zu verstehen und leicht umzusetzen sind. Selbstbestimmte Gesundheit sollte sowohl für die Bewohner:innen als auch für die Mitarbeitenden selbstverständlich werden. Beziehen Sie auch andere „Vorbilder“ mit ein, an deren Lebensweise sich die Bewohner:innen orientieren können. Damit ist weder ein simples Kopieren gemeint noch der Anspruch, dass die Bewohner:innen diesen Vorbildern auch folgen müssen. Sie sollten aber die Gelegenheit haben, auch andere Lebensentwürfe beobachten zu können und dadurch letztlich mehr Wahlfreiheit zu haben. Wer kann neben den Fachkräften noch als Vorbild dienen? Können Sie entsprechende YouTuber:innen empfehlen? Eignen sich Trainer:innen, Athlet:innen oder Ernährungsberater:innen als Anregung?

Die besten Synergien erzeugen Sie, wenn Sie als Verantwortliche:r das Bewusstsein nicht nur in der Einrichtung, sondern auch im gesamten Träger verbreiten. Je nach Struktur gehören neben den Wohneinrichtungen vielleicht auch Senior:innenheime, Ambulant Betreute Wohngruppen und Einzelpersonen, Werkstätten und Tagesstrukturierende Maßnahmen zum Träger. Angesprochen sind alle Bereiche, in denen Menschen mit Lernschwierigkeiten ihren Alltag verbringen und die damit zum Wohnsetting gehören. Je umfassender Sie diese Bereiche integrieren, desto nachhaltiger können Sie das Thema etablieren.

Das folgende Beispiel bewegt sich zwischen den beiden beschriebenen Arten von Bewusstsein: zwischen dem Bewusstsein als Haltung und dem Bewusstsein für Gesundheit. Sie können sich davon also für beide Bereiche inspirieren lassen und lediglich den Inhalt entsprechen anpassen.3 Darüber hinaus lassen sich selbstverständlich noch weitere Möglichkeiten finden, um Nachhaltigkeit zu etablieren.

Eine Unternehmensberatung bietet für Führungskräfte das Thema Wertschätzung an. Auf die erste Beratung folgt ein weiterführendes Angebot. Dieses Angebot erinnert die Führungskräfte in regelmäßigen Abständen daran, was Wertschätzung bedeutet und wie sie ihren Mitarbeiter:innen gegenüber Wertschätzung zum Ausdruck bringen können. Dazu bekommen die Führungskräfte monatlich ein Paket, das einen Vorschlag für eine wertschätzende Aktion enthält.

Ein Jahr lang folgen die Führungskräfte diesen Vorschlägen. Sie a) entwickeln dabei ein Bewusstsein für das Thema, b) üben sich in wertschätzenden Handlungen und c) erleben Beispiele für angemessene Aktionen. Nach Ablauf des Jahres müssen sie diese externen Vorschläge in eigenständige Ideen übertragen.

Welche Aktionen fallen Ihnen ein, die in regelmäßigen Abständen das Thema Gesundheit neu ins Bewusstsein rücken können?

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Beispiel für eine Aktion

Bewegung

Nach diesen Hinweisen zur Planung und Umsetzung folgen nun konkrete Anregungen für die Bereiche Bewegung und Ernährung. Auf den folgenden Seiten wird beschrieben, wie Sie beide Themen gut verankern können. Dabei werden Sie einerseits bestehende Strukturen nutzen können, andererseits wahrscheinlich auch neue Strukturen etablieren müssen. Für einen ersten Überblick in die Thematik beginnt jedes Kapitel mit einer kleinen Einführung in die aktuellen Empfehlungen zu Bewegung und Ernährung.

Körperliche Bewegung ist jede Bewegung, die unter Energieaufwand von der Skelettmuskulatur ausgeführt wird. Menschen können sich auf viele verschiedene Arten bewegen, zum Beispiel durch Gehen, Radfahren, Sport und aktive Freizeitbeschäftigungen (etwa Tanz, Yoga, Tai-Chi). Aber auch (bezahlte und unbezahlte) Arbeit zählt als Bewegung, wenn körperliche Aktivitäten Teil dieser Arbeit sind. Manche Bewegungen sind freiwillig, andere wiederum sind nötig oder sogar vorgeschrieben und haben nicht dieselben mentalen und sozialen Vorteile, die beispielsweise ein Hobby bringt. Dennoch gilt: Alle Formen körperlicher Bewegung sorgen für gesundheitliche Vorteile, wenn sie regelmäßig sowie ausreichend lang und intensiv ausgeführt werden.4

Für erwachsene Menschen mit und ohne Behinderung spricht die World Health Organisation (WHO) folgende Empfehlungen aus:

Erwachsene (18-64 Jahre) mit[* Vgl. WHO 2020b, S. 61] und ohne[* Vgl. WHO 2020b, S. 32] Behinderung

Ausdauertraining (aerobe Aktivitäten)

  • mindestens 150-300 Minuten mit moderater Intensität; oder

  • mindestens 75-150 Minuten mit hoher Intensität; oder

  • eine gleichwertige Kombination aus beiden Intensitäten

Krafttraining

  • an mindestens zwei Tagen

  • mit moderater oder höherer Intensität

  • für alle wichtigen Muskelgruppen

Erwachsene (ab 65 Jahren) mit[* Vgl. WHO 2020b, S. 61] und ohne[* Vgl. WHO 2020b, S. 43] Behinderung

Zusätzlich
Funktionales
Balance- und Krafttraining

  • an mindestens drei Tagen

  • mit moderater oder höherer Intensität

  • verbessert funktionale Fähigkeiten und beugt Stürzen vor

Allen Erwachsenen wird derselbe Bewegungsumfang empfohlen – unabhängig von Alter, Geschlecht und Behinderung. Lediglich die Gruppe der Über-65-Jährigen erhält die zusätzliche Empfehlung, ein Funktionstraining einzubinden, um ihre funktionalen Fähigkeiten zu verbessern und Stürzen vorzubeugen. Für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist besonders relevant, dass sie offenbar ihre körperlichen Fähigkeiten verbessern können, wenn sie sich regelmäßig gezielt bewegen.9

Bewegung wird von Menschen ganz unterschiedlich wahrgenommen und umgesetzt. Einige Faktoren verhindern Bewegung eher, während andere sich als förderlich erweisen. Eine Untersuchung mit Menschen mit Lernschwierigkeiten hat drei Aspekte herausgearbeitet, die die Teilnahme an Bewegungsangeboten fördern (oder eben hemmen) können:

Motivation: Menschen mit Lernschwierigkeiten sind offenbar stärker motiviert, wenn Bewegungsangebote auch weitergehende Ziele verfolgen und zum Beispiel das Zugehörigkeitsgefühl fördern.

Soziale Unterstützung: Durch Interesse, entsprechendes Wissen und ein angemessenes Risikobewusstsein drücken Fachkräfte und Angehörige ihre Unterstützung aus.

Politische und finanzielle Rahmenbedingungen: Der Zugang zu Angeboten muss möglich und finanzierbar sein. Dazu zählt auch, dass sich die Kosten- und Leistungsträger dazu bekennen, wie wichtig körperliche Bewegung ist.

Fehlen diese drei Aspekte, sind Menschen mit Lernschwierigkeiten stärker gehemmt, an Bewegungsangeboten teilzunehmen.10

Die folgenden Seiten präsentieren verschiedene Ansätze, wie sich mehr Bewegung in den (Wohn-)Alltag integrieren lässt. Dabei werden sowohl die alltäglichen Bewegungsmöglichkeiten (Kapitel 5.3.1), die aktive Freizeitgestaltung (Kapitel 5.3.2) und die informellen Bewegungsangebote (Kapitel 5.3.3) abgedeckt als auch die stärker strukturierten zielgruppenspezifischen Angebote (Kapitel 5.3.4) sowie die Teilhabe an Sportvereinen (Kapitel 5.3.5). Und zu guter Letzt zählt: Auch Spaß muss es machen (Kapitel 5.3.6)!

Im Alltag bewegen

Schon in der Einleitung zu diesem Praxishandbuch konnten Sie lesen: Eine präventive und gesundheitsfördernde Wirkung stellt sich bereits durch ein Minimum an Bewegung ein. Diese Erkenntnis ist wichtig, weil sie ganz neue Möglichkeiten eröffnet, denn nicht jeder Mensch kann oder möchte viele Stunden Sport treiben: Während die einen sich darüber freuen, dass sie alle zwei Tage 15 Kilometer joggen dürfen, genügt den anderen ein strammer Spaziergang. Und auch diese alltäglichen Bewegungschancen sollten so gut wie möglich genutzt werden.

Wenn Menschen aus eigener Körperkraft Wegstrecken zurücklegen, spricht man von aktiver Mobilität. Dabei ist erst einmal unerheblich, ob die Bewegung einen Zweck erfüllt (zum Beispiel zur Arbeit oder zum Einkaufen zu gehen) oder ob die Bewegung ohne ein gerichtetes Ziel stattfindet (beispielsweise einen Spaziergang oder eine Fahrradtour zu machen, weil das Wetter schön ist). Zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad, Tretroller oder Skateboard fahren – all diese Bewegungsmuster zählen als aktive Mobilität. Und die wissenschaftliche Erkenntnis ist: Aktive Mobilität kann Ausdauertraining sogar „ersetzen“. Wenn Personen etwa täglich mehrere Kilometer mit dem Rad zur Arbeit pendeln, dann stellen sich für ihren Körper ebenso positive Wirkungen ein wie für Menschen, die ein moderates Ausdauertraining betreiben. Insbesondere, wenn die Zeit knapp ist, kann also aktive Mobilität ein entscheidender Faktor für Fitness, Gesundheit und Wohlbefinden sein.11

Für viele Menschen mit Lernschwierigkeiten, die in Einrichtungen leben, sind bereits diese alltäglichen Bewegungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Gelegenheiten wie der Gang zum Supermarkt bergen dieselben Grenzen wie alle Aktivitäten, bei denen Menschen Assistenz benötigen: Sie scheitern häufig an der fehlenden Begleitung. Überlegen Sie daher, wie Sie auch mit den vorhandenen Ressourcen viele Möglichkeiten bieten können.

Die Bewohner:innen könnten – ihr Einverständnis vorausgesetzt! – zum Beispiel…

  • regelmäßig mit einer Freundin spazieren gehen,
  • abwechselnd einkaufen gehen,
  • fragen, ob der Bus, der sie zur Arbeit bringt, zwei Straßenecken früher hält, und die letzten Meter gemeinsam (in Begleitung) gehen,
  • häufiger die Treppen statt den Fahrstuhl nehmen oder
  • den Transporter am hinteren Ende des Parkplatzes parken lassen, damit der Weg zwischen Auto und besuchtem Ort möglichst lang ist.

Besonders motivierend kann ein Schrittzähler wirken, den die Bewohner:innen als App oder als Gadget nutzen können. Die Zahlen auf dem Display können dazu anspornen, noch mehr Schritte erreichen zu wollen. Zudem ist ein Schrittzähler eine gute Übersicht über das eigene Bewegungsverhalten. Ein Schritttagebuch, das im Projekt „Gesund leben: Besser so, wie ich es will!“ genutzt wurde, finden Sie im Anhang. Für Schrittzähler gilt jedoch: Die Bewohner:innen müssen die verwendeten Symbole oder Zahlen verstehen können.

Kleine Bewegungsübungen lassen sich gut in den Alltag integrieren: Wer viel sitzt, zum Beispiel auf der Arbeit, oder zu Hause viel fernsieht oder an der Konsole spielt, kann solche Übungen auch zwischendurch machen. Viele Rücken- oder Kräftigungsübungen lassen sich im Sitzen ausführen und eignen sich damit ebenfalls für Menschen, die auf Rollstuhl, Rollator oder andere Gehhilfen angewiesen sind. Einfache Alltagsgegenstände sind als Trainingsgeräte oft ausreichend – gefüllte Wasserflaschen können beispielsweise als Gewichte verwendet werden.

Für das Projekt „Gesund leben: Besser so, wie ich es will!“ wurden eigene Videos mit Bewegungsübungen aufgenommen. Viele der Übungen sind auch im Sitzen ausführbar.

Hinweise für Werkstätten
Bewegte Pausen

In einigen Schulen, aber auch in einigen anderen Bildungseinrichtungen und Arbeitsstätten ist das Konzept der Bewegten Pause bereits etabliert: zwischendurch aufstehen und sich bewegen regt den Kreislauf wieder an und entlastet die Muskeln. Auch die Konzentrationsfähigkeit soll dadurch erhöht werden. Solche Bewegten Pausen können auch Einzug in die WfbM erhalten. Dabei kann es schon reichen, in regelmäßigen Abständen aufzustehen und sich kurz zu bewegen.

Doch auch die längere Mittagspause könnte als Zeitfenster für ein Bewegungsangebot genutzt werden. In Kooperation mit einem Sportverein oder mit Übungsleiter:innen könnten Sie beispielsweise eine kurze Sporteinheit anbieten. Nutzen Sie dafür einen freien Raum in der Werkstatt oder spazieren Sie zur nahegelegenen Sporthalle.

Eine weitere, wenngleich logistisch aufwendigere Möglichkeit ist es, die Fahrt zur Arbeit aktiv zu gestalten. Wer morgens zwei Stunden im Bus unterwegs ist, freut sich vielleicht über die Gelegenheit, sich zwischendurch einmal die Beine vertreten, frische Luft schnappen oder die Arme recken zu können.

Und auch unmittelbar vor der Arbeit könnten Sie eine Yoga- oder Gymnastik-Einheit anbieten, damit alle kraftvoll in den Tag starten können.

Auch einige Haustiere brauchen regelmäßige Bewegung. Da ein Hantel-Set jedoch leichter zu versorgen ist als beispielsweise ein Hund, wird der Hinweis auf Tiere an dieser Stelle nur sehr vorsichtig gegeben. Sie wissen am besten, inwieweit sich Tiere in den Alltag der Wohneinrichtung integrieren lassen. Neben zusätzlichen Kosten (zum Beispiel für Futter und tierärztliche Untersuchungen) muss selbstverständlich auch die Verantwortung geklärt we

Freizeit aktiv gestalten

Anstelle eines eigenen Tiers kommen vielleicht auch Kooperationen mit dem lokalen Tierheim oder dem Reiterhof in Betracht. So können interessierte Bewohner:innen die Tiere ausführen, ohne die gesamte Verantwortung zu übernehmen. Und auch körperliche Arbeit ist Bewegung: Ställe ausmisten, Futtersäcke tragen oder Käfige fegen kann für einige Menschen ein sinn- und freudvolles Ehrenamt sein.

Eine der am wenigsten aufwendigen Freizeitbeschäftigungen ist das Spazierengehen: Ein Spaziergang ist kostenlos, er dauert so lang oder so kurz, wie man es will, und er kann direkt vor der Haustür starten. Da einige Menschen beim Spazierengehen Assistenz benötigen, muss jedoch auch dieses Angebot durchdacht werden. Neben dem regulären Personal der Wohneinrichtung besteht auch die Möglichkeit, stundenweise externe Assistenz für die Freizeitgestaltung zu beschäftigen. Erkundigen Sie sich, welcher Anbieter in Ihrer Region diesen Service anbietet. Bewohner:innen, die keine Assistenz benötigen, möchten sich vielleicht mit ihrem:ihrer Mitbewohner:in verabreden und gemeinsam die Umgebung erkunden.

Eine weitere gemeinsame Aktivität sind Wanderungen. Bewohner:innen, die sich sportlich fordernde Ausflüge wünschen, könnten eine Wandergruppe gründen und (mit Unterstützung) regelmäßige Wanderungen planen. Je nach Lage der Wohneinrichtung sind damit zwar mehr oder weniger weite Anfahrtswege verbunden, doch grundsätzlich lassen sich in jeder Landschaft reizvolle Wege finden. Sicherlich ist auch Walking für einige Menschen eine geeignete Sportart, denn korrekt ausgeführt ist Walking anspruchsvoll und gleichzeitig gelenkschonend. Trauen Sie sich aber, auch außerhalb der „klassischen“12 Sportarten zu denken, die in Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung angeboten werden.

Abbildung 9 Dreirad (Trike)

Weitere Vorschläge für eine aktive Freizeitgestaltung umfassen

  • Klettergruppen: In vielen Kletterhallen existieren bereits inklusive Klettergruppen. In Ihrer nicht? Vielleicht können Sie dann selbst eine ins Leben rufen?
  • Kleingeräte: Steht im Keller eine Tischtennisplatte, lässt sich im Garten schnell ein Wurf- oder Schlagspiel aufbauen, hängt im Hof ein Basketballkorb? Je mehr Gelegenheiten vorhanden sind, desto leichter lassen sich Bewegungsspiele zwischendurch einbinden.
  • Veranstaltungen: Tanzen die Bewohner:innen gerne? Organisieren Sie gemeinsam einen Tanztee am Samstagnachmittag!
  • Parks: Befindet sich in der Nähe der Wohneinrichtung ein Park mit Bewegungsspielen? Oder können die Bewohner:innen am Wochenende einen Ausflug dorthin machen? In einigen Parks besteht beispielsweise die Möglichkeit, Wikingerschach oder ähnliches zu spielen.

Die Aktivitäten sollten in erster Linie Spaß machen, damit die Bewohner:innen sie gerne und wiederholt ausführen. So erhält Bewegung eine Leichtigkeit und wird nicht nur mit schweißtreibendem Sport gleichgesetzt.

Informelle Angebote nutzen

In der Freizeit können auch informelle Bewegungsangebote genutzt werden. Dazu zählen Outdoor-Fitnessgeräte ebenso wie die etwas aus der Mode gekommenen Trimm-Dich-Pfade. Befindet sich in Ihrer Nähe noch ein gut erhaltener Trimm-Dich-Pfad, dann bietet sich dieser vielleicht als lustige Ausflugsmöglichkeit an.

Viele Kommunen bieten in den Sommermonaten „Sport im Park“ an. Dabei handelt es sich um kostenlose und unverbindliche Angebote. Interessierte können zu bestimmten Uhrzeiten beispielsweise Yoga, Aerobic oder Taekwondo ausprobieren. Diese Angebote eignen sich ebenfalls gut als Schnuppertraining, falls Bewohner:innen auf der Suche nach einer Sportart sind, die sie auch im Verein ausüben möchten.

Halten Sie auch Ausschau nach ähnlichen Angeboten: Die Stadt Köln etwa richtet im Sommer die Veranstaltung „Kölle aktiv“ aus. Dabei werden auf Grünflächen und Sportanlagen der Stadt über mehrere Wochen verschiedene Sportkurse angeboten.

Und zuletzt fällt unter informelle Angebote selbstverständlich auch der Online-Sport. Die Video-Plattform YouTube bietet zahlreiche Videos zu unterschiedlichen Sportarten für nahezu alle Leistungsniveaus, andere Plattformen bieten kostenpflichtige, dafür etwas stärker strukturierte Kurse. Insbesondere für die Bereiche Yoga, Gymnastik, Pilates und Krafttraining werden Sie hier fündig. Wenn Sie Bewohner:innen bei der Suche nach geeigneten Videos unterstützen, achten Sie zum einen auf die Qualität des Angebots und zum anderen darauf, ob die Person die Anleitungen gut verstehen kann.

Zielgruppenspezifische Angebote

Bei einigen Stakeholder:innen im Projekt „Gesund leben: Besser so, wie ich es will!“ kam der Wunsch auf, dass „Menschen nicht immer im Sonderkontext“13 Sport machen. Menschen mit Behinderung in Wohneinrichtungen leben jedoch genau in diesem Sonderkontext. Es kann schwierig sein, diesen Kontext dann für ganz bestimmte Lebensbereiche – zum Beispiel den Sport – zu verlassen. Viele Angebote finden daher explizit für die Zielgruppe „Menschen mit Behinderung“ statt. Diese Kategorisierung kann leicht zu Missverständnissen führen: Behinderung ist nicht gleich Behinderung. So hat Barrierefreiheit für Rollstuhlnutzer:innen beispielsweise andere Voraussetzungen als Barrierefreiheit für Menschen mit Lernschwierigkeiten.

Behinderungsspezifische Sportaktivitäten sind eine ausdrückliche Forderung der UN-BRK (Art. 30, 5b). (Sie sind eine Forderung unter anderen Forderungen. Auch der gleichberechtigte Zugang zu Sport- und Freizeitangeboten wird in Art. 30, 5a, c, e deutlich benannt, insbesondere für Kinder und Jugendliche in Art. 30 d.) Der Vorteil an behinderungsspezifischen Kursen ist selbstverständlich, dass sie genau auf die Zielgruppe ausgelegt sind. In Kursen für Menschen mit Lernschwierigkeiten werden Sie beispielsweise besonders darauf achten, alle Übungen leicht verständlich einzuführen.

Zielgruppenspezifische Sportkurse können unterschiedlich gestaltet werden:

  • Der Kurs kann in der Wohneinrichtung selbst stattfinden, etwa im Gemeinschaftsraum oder in einem anderen Raum, der sich für die Zwecke eignet.
  • Der Kurs kann auf demselben Gelände stattfinden, aber in einem anderen Gebäude. So wechseln die Teilnehmer:innen die Örtlichkeit, ohne jedoch lange Wegstrecken überwinden zu müssen.
  • Der Kurs kann auf dem Einrichtungsgelände stattfinden und vom Träger organisiert werden, aber auch von externen Teilnehmer:innen zu buchen sein. Damit wird aus Ihrem Kurs theoretisch ein inklusives Angebot. Einige Erfahrungen der Projekt-Stakeholder:innen zeigen aber, dass Menschen sich teils zufällig anmelden und nach wenigen Terminen die Teilnahme wieder einstellen. Solche Eindrücke verstärken möglicherweise das Gefühl der Bewohner:innen, außerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu stehen.

Inwiefern die trägerinternen Sportangebote bei den Bewohner:innen auf Anklang stoßen, ist ganz unterschiedlich. So empfinden die einen das Sportangebot im Park als eher langweilig, während die anderen die Gymnastikgruppe in der Einrichtung genießen. Einige Vorlieben können auch mit dem Alter zusammenhängen: Am Projekt „Gesund leben: Besser so, wie ich es will!“ nahmen Menschen zwischen 33 und 67 Jahren teil – in der Regel wird sich ein jüngerer Mensch andere Bewegungsmöglichkeiten wünschen als die älteren Generationen, vielleicht „cooler“, herausfordernder und vor allem inklusiv. Diese Unterschiede in Alter und Vorlieben können begründen, wieso Walking ein gutes Angebot für ältere Bewohner:innen sein, für die jüngeren aber langweilig wirken kann. Insbesondere bei der Planung von Gruppenangeboten ist es daher wichtig, die Bewohner:innenstruktur im Blick zu behalten.

Wenn Sie eigene Bewegungsangebote planen, gestalten Sie die Einheiten kurzweilig. Bewegung muss Spaß machen! Nutzen Sie zum Beispiel Bewegungs- oder Tanzvideos, die zum Mitmachen animieren. Verwenden Sie Musik. Tanzstunden eignen sich zudem hervorragend, das Training mit einer Kamera aufzunehmen. Es macht Spaß, sich selbst beim Tanzen zuzusehen, und die Bewohner:innen können überdies ihre Leistung reflektieren. Wenn Sie eine Veranstaltung planen, wo die Bewohner:innen ihr Können präsentieren können – etwa das Sommerfest –, schaffen Sie einen zusätzlichen Anreiz.

Um einen Zugang zu externen Angeboten zu schaffen, kann ein erster Schritt sein, dass Sie Kursleiter:innen in die Wohneinrichtung einladen. Wurden beispielsweise eine oder mehrere Yoga-Stunden im gewohnten Umfeld absolviert, kann es leichter sein, für die weiteren Stunden selbst zum Yoga-Studio zu fahren.

  • Trauen Sie Menschen mehr zu. Statt nur Sport im Sitzen anzubieten können Sie zum Beispiel Matten anschaffen und dann trotz oder gerade gegen die eingeschränkte Beweglichkeit auch Gymnastik auf dem Boden anleiten.
  • Wenn Bewohner:innen tatsächlich gerne kegeln und Sie den Platz haben: Richten Sie eine Kegelbahn in der Wohneinrichtung ein.
  • Ziehen Sie aber auch unübliche Angebote in Erwägung – je nach individuellen Ressourcen eignen sich vielleicht Paddel-Tennis, Slacklinen oder Inlineskaten.
  • Engagieren Sie eine:n Übungsleiter:in und bieten Sie damit ein regelmäßiges, professionelles Sportangebot in der Wohneinrichtung an.
  • Fragen Sie, ob Bewohner:innen Interesse am Deutschen Sportabzeichen haben.

Athlet:innen mit Behinderung organisieren sich teilweise auch in speziellen Verbänden. Special Olympics ist beispielsweise die größte Sportbewegung für Menschen mit Lernschwierigkeiten und Komplexer Behinderung. Neben der bundesweiten Vertretung existieren auch Landesverbände und damit regionale Angebote. Vor allem Bewohner:innen, die die sportliche Herausforderung suchen, sind hier gut aufgehoben, da sich die Athlet:innen auch in Wettkämpfen messen. Während der COVID-19-Pandemie richtete Special Olympics auch digitale Angebote für Breitensportler:innen ein, etwa Schnupperangebote zu einzelnen Sportarten oder sanfte Gymnastik. Nehmen Sie Kontakt zu Ihrem Landesverband auf, um die aktuellen Angebote zu erhalten (Deutsches Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung).

Vereine und Sportevents erobern

Artikel 19 der UN-BRK schreibt das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung fest. Gleichzeitig umfasst Artikel 19 aber auch das Recht auf Inklusion in die Gemeinschaft: Menschen mit Behinderungen soll ermöglicht werden, „vollständig inkludiert zu sein und an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilzuhaben.“14 Diese gesellschaftlichen Bereiche umfassen neben anderen auch Gesundheitsdienste und Freizeitaktivitäten – etwa Sport. Der Zugang zu Vereinen und Sportevents kann daher als bedeutender Inklusionsmotor angesehen werden. Er wird in Art. 30, Abs. 5 überdies konkret benannt.

Mein Gefühl wäre erst mal, dass es wichtig wäre, aus so einem abgeschlossenen System der Einrichtungen rauszutreten und eben den Kontakt zu Regelvereinen herzustellen. Dass (…) Sport und Bewegung mehr auch als Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gewertet wird.

Stakeholder:in (SH10_TI1, Pos. 31)

In Sportvereinen können Menschen selbst diejenige Sportart wählen, die sie attraktiv finden. Dazu muss jedoch klar sein, wie die Bewohner:innen ein solches Angebot überhaupt finden und dann auch tatsächlich besuchen können. Es ist daher einerseits wichtig, dass die Fachkräfte ausreichend informiert sind, um ihr Wissen weiterzugeben; andererseits müssen die Bewohner:innen auch selbst in der Lage sein, sich Informationen beschaffen zu können. Dazu können die Informationen beispielsweise auch zu den Bewohner:innen kommen, entweder in Form von Flyern oder anderem Informationsmaterial oder in Form einer Person. Nehmen Sie Kontakt zu Referent:innen bei den Kreis- und Stadtsportbünden oder direkten Kontakt zu den Sportvereinen auf. Laden Sie zum Austausch ein, so dass die Bewohner:innen das Sportangebot direkt kennenlernen können (Qualifiziert beraten). Erkunden Sie, welche Angebote im Sozialraum passend und gut erreichbar sind.

Den Zugang zu Sportvereinen können Menschen auch über ein Schnuppertraining finden, das viele Vereine anbieten. So können sie ausprobieren, ob eine Sportart für sie überhaupt in Frage kommt. Es kann Spaß machen, auch einmal in weniger offensichtliche Sportarten zu schnuppern und zum Beispiel Segeln, Voltigieren oder Stand-Up-Paddling zu testen.

Vereine bieten darüber hinaus mehr als den reinen Sport: Auch über Turniere, Vereinsfeste und andere Veranstaltungen kann sich ein Gemeinschaftserleben einstellen. Die Voraussetzung dafür ist, dass Menschen mit Behinderung auch in solche Veranstaltungen einbezogen werden (Inklusion leben). Möchten die Bewohner:innen beispielsweise an einer Laufveranstaltung teilnehmen oder sich auf das Deutsche Sportabzeichen vorbereiten? Solche Ziele können ein großer Motivationsschub sein, vor allem wenn das Training und die Logistik gemeinsam angegangen werden können. So überlagern sich die Angebote: Um an einem externen Lauf teilzunehmen, wird intern trainiert.

Sportevents können Sie auch als Träger oder Wohneinrichtung selbst durchführen. Denkbar sind hier inklusive Veranstaltungen als eine Art „Spiele ohne Grenzen“. Führen Sie den Gedanken weiter und überlegen Sie, welchen Umfang Sie bewältigen können. Was wünschen sich die Bewohner:innen? Können Sie eine Kooperation mit dem benachbarten Sportverein eingehen? Welche Vorstellungen haben die Mitglieder dort? Welches (gesundheitsbezogene) Rahmenprogramm können Sie über den Sport hinaus anbieten?

Gegebenenfalls können Sie auch in die Sportvereine selbst ein inklusives Angebot einbringen. Denken Sie dabei auch außerhalb der „klassischen“ Sportarten: Je angesagter ein Sport ist, desto mehr Menschen werden Sie begeistern können.

Hinweise für Sportvereine

Deutsches Sportabzeichen

Planen Sie eine gemeinsame Veranstaltung für das Deutsche Sportabzeichen für Menschen mit und ohne Behinderung. Gehen Sie auf die lokalen Wohneinrichtungen und Selbstvertretungsorganisationen zu, machen Sie gezielt Werbung und beziehen Sie die möglichen Beteiligten in die Planungen ein. Werben Sie auch dafür, dass Menschen sich zu Prüfer:innen ausbilden lassen.

Exklusive“ Angebote

Nicht alle Menschen mit Behinderung sind auf der Suche nach Angeboten, die gemeinsam mit Nichtbehinderten stattfinden: Einige Menschen fühlen sich auch in Behindertensportgruppen wohl, unter anderem, weil sie sich dort mit Gleichstarken messen können. So könnten Sie in Ihrem Verein auch Gruppen für Menschen mit Behinderung einrichten. Bedenken Sie dabei aber, dass Behinderung nicht gleich Behinderung ist. Am besten reagieren Sie mit Angeboten zu Behindertensport sensibel auf die Nachfrage von Interessierten.

Hinweis für Sportvereine und andere Anbieter

Behinderung ≠ Behinderung

Alle Teilnehmer:innen kommen mit unterschiedlichen Voraussetzungen zu Ihnen, und dies gilt gleichermaßen für Menschen mit Behinderung. Bleiben Sie daher sehr aufmerksam, wie Sie eine inklusive Gruppe oder eine Gruppe ausschließlich für Menschen mit Behinderung strukturieren. Wenn die „inklusive“ Gruppe im örtlichen Wanderverein in erster Linie für Rollstuhlnutzer:innen ausgelegt ist, dann sind Menschen mit Lernschwierigkeiten möglicherweise besser in einer anderen Gruppe aufgehoben. Hier wird es eher auf die Beschaffenheit der Wege als auf das Etikett „Behinderung“ ankommen: Wer als Rollstuhlnutzer:in wandert, ist in der Regel auf etwas breitere und ebenere Wege angewiesen, während gehende Wander:innen auch Steine, Wurzeln und starke Steigungen überwinden können.

Spaß haben

Bewegung ist wichtig und tut gut – das wissen alle. Doch Wissen allein ist nicht immer ausreichend. Viele Menschen müssen einen inneren Widerstand überwinden, um sich aus dem heimeligen Zuhause in die Sporthalle zu begeben. Diesen Widerstand nur mit Vernunft und Disziplin besiegen zu wollen, ist sehr schwer. Einfacher wird es, wenn der Sport tatsächlich Spaß macht. Spaß kann dafür sorgen, dass Menschen Sport als positiv ansehen und dass sie dieses gute Gefühl erneut erleben möchten – wiederum durch mehr Sport. Die Vermutung, dass Spaß einen großen Einfluss auf Bewegung hat, wird auch durch neuere Forschungsergebnisse belegt.15

Sportangebote müssen daher in erster Linie Spaß machen und gerne angenommen werden. Darüber wird zunächst das Interesse geweckt und in einem weiteren Schritt möglicherweise auch verstetigt. Insbesondere bei Sportarten ohne Leistungscharakter überwiegt die Freude an der Bewegung. Dies trifft zum Beispiel auf Bewegungsspiele zu, bei denen eher der aktive Aufenthalt im Freien im Vordergrund steht.

Andere freudvolle Bewegung ist vielleicht weniger offensichtlich: So können Menschen durchaus auch als Assistent:innen der Trainer:innen beschäftigt sein, Hütchen aufstellen oder ähnliche Tätigkeiten ausführen. Dabei bewegen sie sich ebenfalls, sind an der frischen Luft und halten sich in Gesellschaft auf.

Was Menschen Spaß macht, ist jedoch sehr unterschiedlich. Die einen mögen das wöchentliche einrichtungsinterne Bewegungsangebot, die anderen den Sport im externen Verein und wieder andere die aktive Freizeitgestaltung wie Spaßbäder oder sogar Freizeitparks. Neben individuellen Präferenzen wird hier auch das Alter eine Rolle spielen (Zielgruppenspezifische Angebote).

Neben dem Angebot selbst können auch enthusiastische Übungsleiter:innen oder Referent:innen zum Spaßfaktor beitragen. Die Art und Weise, wie ein Kurs angeleitet wird, kann Menschen im Idealfall auch zu Bewegungsmustern motivieren, die sie sich vorher nicht zugetraut hätten. Je nach Struktur ist es gegebenenfalls auch möglich, Spaß als Alleinstellungsmerkmal für ein inklusives Angebot in der Wohneinrichtung oder beim Träger zu nutzen.

Ernährung

Die zuständigen Ministerien und Ernährungsgesellschaften einzelner Staaten sprechen Empfehlungen dazu aus, wie eine gesunde Ernährung zusammengesetzt sein sollte. Der Konsens aus vier solcher Empfehlungen16 ergibt Folgendes:

Allgemeine Empfehlungen:

  • Ernährung sollte ausgewogen sein, sich also aus möglichst vielen Lebensmittelgruppen zusammensetzen.
  • Lebensmittel sollten am besten unverarbeitet gekauft und dann möglichst schonend (durch Dünsten oder Dampfgaren) selbst zubereitet werden.
Allgemeine Empfehlungen:
  • Ernährung sollte ausgewogen sein, sich also aus möglichst vielen Lebensmittelgruppen zusammensetzen.

  • Lebensmittel sollten am besten unverarbeitet gekauft und dann möglichst schonend (durch Dünsten oder Dampfgaren) selbst zubereitet werden.

Gegessen werden sollten:
  • Obst und Gemüse, wobei teilweise fünf Portionen empfohlen werden und eine Portion der eigenen „Handvoll“ entspricht

  • Protein-, also eiweißhaltige Lebensmittel, wie Hülsenfrüchte (Bohnen, Linsen, Kichererbsen), Nüsse und Sojaprodukte (Tofu); empfohlene tierische Proteine umfassen Eier, Fisch und mageres Fleisch (diese in Maßen)

  • Kohlehydrathaltige Lebensmittel, etwa Vollkornprodukte (Brot, Nudeln, Reis, Haferflocken) und stärkehaltige Gemüse (Kartoffeln, Süßkartoffeln)

  • Milch- oder Milchersatzprodukte, wie Kuh- oder Sojamilch, Joghurt, Käse

  • Fette und Öle (jedoch nur in kleinen Mengen), die ungesättigte Fettsäuren enthalten, wie sie etwa in Fisch, Avocado, Nüssen, Sonnenblumen-, Soja-, Raps- und Olivenöl vorkommen

Getrunken werden sollten:
  • In erster Linie Wasser

  • Zuckerfreie Getränke wie ungesüßter Tee oder Kaffee

Nur in geringen Mengen gegessen werden sollten:
  • Gesättigte Fettsäuren, die zum Beispiel in fettigem Fleisch, Butter, Palm- und Kokosöl, Sahne, Käse, Ghee und Schmalz enthalten sind

  • Zucker – weniger als 10 Prozent der Energiezufuhr. Das bedeutet: weniger als 50 g Zucker (oder ungefähr 12 gestrichene Teelöffel) für eine Person mit gesundem Körpergewicht und einem Kalorienbedarf von etwa 2000 kcal. Ideal ist jedoch weniger als 5 Prozent der täglichen Energiezufuhr für zusätzliche positive Gesundheitseffekte. Zu Zucker zählen auch Honig, Sirup oder Fruchtsäfte.

Vermieden werden sollten:
  • trans-Fettsäuren, die in industriell hergestellten Produkten wie vorgebackenen, frittierten und abgepackten Speisen (zum Beispiel Pizza, Kuchen, Kekse, Waffeln) vorkommen

Diese grundlegenden Hinweise sollten an den Geschmack und an die Lebenssituation des Individuums angepasst werden. Für Detailfragen wenden Sie sich am besten an eine:n qualifizierte:n Ernährungsberater:in.

Ernährung ist – so melden es jedenfalls die Stakeholder:innen im Projekt „Gesund leben: Besser so, wie ich es will!“ zurück – in den Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung immer wieder ein Thema. Dabei werden auch Fragen der Selbstbestimmung berührt.

Also wir haben ja immer noch Zustände in Einrichtungen, wo Kühlschränke abgeschlossen werden. (...) Und dass reglementiert wird, was wann wo gegessen wird. Und das ist eine Vollkatastrophe.

Stakeholder:in (SH11TI220210614, Pos. 110)

Als Fach- und Leitungskraft haben Sie gegenüber den Bewohner:innen eine gewisse Verantwortung. Wenn es um Fragen der Gesundheit oder um das Gemeinschaftswohl geht, denken Sie möglicherweise auch hin und wieder über freiheitseinschränkende Maßnahmen nach. Sollten Sie den Kühlschrank doch verriegeln, weil Herr Mauß sich andauernd daraus bedient? Die Brotscheiben für Frau Gerhardt abzählen, weil sie sonst zu stark zunimmt? Sobald Menschen die freie Entscheidung darüber verwehrt wird, wann und was sie essen, wird auch ihr Recht auf Selbstbestimmung beschnitten (notwendige Fremdbestimmung?). Solche Einschränkungen sollten daher sensibel überdacht werden. Inwiefern mögliche Maßnahmen dem Prinzip der Selbstbestimmung widersprechen, müssen Sie für den jeweiligen Einzelfall klären. Ist in der Einrichtung bereits eine offene Gesprächskultur etabliert, diskutieren Sie diese grundlegenden und einschneidenden Fragen am besten mit allen Beteiligten. Andernfalls haben Sie vielleicht die Möglichkeit, sich Moderationshilfe von außen zu holen.

Vielleicht helfen bereits die folgenden Hinweise, um die Situation rund um das Thema Ernährung etwas zu entspannen und den Bereich selbstbestimmte Ernährung in der Wohneinrichtung zu fördern. Die nächsten Seiten beschreiben, wie die Bewohner:innen eine Beziehung zu Lebensmitteln aufbauen (Kapitel 5.4.1), wie Sie in den Einrichtungen ausgewogene Lebensmittel anbieten (Kapitel 5.4.2) und wie Sie unterstützend fachliche Expertise nutzen (Kapitel 5.4.3).

Beziehung zu Lebensmitteln aufbauen

Wer sich ausgewogen ernähren will, muss eine Beziehung zu Lebensmitteln haben. Das setzt zunächst voraus, Lebensmittel zu kennen und auch korrekt benennen zu können. Erst, wenn man weiß, dass dieses grüne Gemüse ein Brokkoli ist, hat der Brokkoli einen Wiedererkennungswert und kann dann wiederum mit seinen positiven Eigenschaften verknüpft werden. Wenn Menschen mit Lernschwierigkeiten diese Beziehung fehlt, dann ist eine ausgewogene Ernährung für sie ungleich schwerer.

Pauschale Aussagen – „Fettige Lebensmittel meiden!“, „Keinen Zucker mehr essen!“, „Nie wieder Koffein!“ – helfen nur bedingt weiter. Viel wichtiger ist es, Lebensmittel einordnen zu können: Es besteht ein Unterschied zwischen dem kalten Olivenöl in der Salatsauce und den in Öl frittierten Pommes. Ebenso unterscheidet sich Fanta von Orangensaft, obwohl auf beiden Flaschen eine Orange abgebildet ist. Diese Unterschiede zu vermitteln und zu erkennen, kann harte Arbeit erfordern. Doch nur auf dieser Grundlage können Menschen verstehen, welche gesundheitlichen Konsequenzen eine bestimmte Ernährungsweise hat – und nur auf dieser Grundlage können sie sich frei für oder gegen ein Lebensmittel entscheiden.

Was kann dabei helfen, ein Verständnis für Lebensmittel aufzubauen?

  • Planen Sie Schulungen oder Workshops, in denen sich Fachkräfte und Bewohner:innen gemeinsam Gedanken über ihre Essgewohnheiten machen und darüber diskutieren, wie sie Mahlzeiten abwechslungsreich gestalten können.
  • Geben Sie den Bewohner:innen auch im Alltag die Möglichkeit, Gewohnheiten zu reflektieren und dadurch eine Beziehung zum eigenen Ess- und Trinkverhalten aufzubauen (wie zum Beispiel durch ein Trinkprotokoll). Achten Sie aber darauf, dass die Bewohner:innen ein Verhalten nur aus eigener Motivation heraus ändern, und nicht, um es der Fachkraft recht machen zu wollen.
  • Nutzen Sie ein Ampelsystem für – möglicherweise selbst erstellte – Rezeptbücher: Unausgewogene Gerichte sind mit einem roten Punkt markiert, ausgewogene mit einem grünen.
  • Visualisieren Sie Lebensmittel und hängen Sie zum Beispiel Ernährungspyramiden gut sichtbar in der Küche auf.
  • Nutzen Sie visualisierte Einkaufszettel. Wenn die Lebensmittel zusätzlich in die verschiedenen Lebensmittelgruppen unterteilt sind, lässt sich am Einkaufszettel gut ablesen, wie ausgewogen der Einkauf – und damit auch die Mahlzeit – wird. Lesen Sie dazu das untenstehende Best Practice-Beispiel.
  • Piktogramme lassen sich auch gut nutzen, um den Essensplan für die jeweils kommende Woche aufzustellen. Noch besser eignen sich tatsächliche Fotos der Gerichte, damit alle Bewohner:innen wissen, was sich zum Beispiel hinter dem Namen „Kartoffelgratin“ verbirgt.
  • Trauen Sie sich, auch unbekannte Lebensmittel auszuprobieren. Vielleicht hat die Wohngruppe Interesse an einer Box mit Lebensmitteln und passendem Rezept? Solche Boxen können über externe Anbieter bestellt werden. Wenn Sie einen engagierten Küchenservice im Haus haben, kann möglicherweise auch dieser solche Boxen zusammenstellen.
  • Kochen Sie gemeinsam oder in kleinen Teams.
  • Bereiten Sie gemeinsam mit den Bewohner:innen Lebensmittel eigenständig zu, beispielsweise indem Sie Rohkost aufschneiden. Lebensmittel in ihrer ursprünglichen Form statt nur gekocht oder zubereitet zu erleben, kann das Bewusstsein für Ernährung fördern.

BEST PRACTICE: VISUALISIERUNG HILFSMITTEL

Die Bewohner:innen planen mit visualisierten Einkaufszetteln“„ In den WGs planen die Bewohner:innen mehrere Tage im Voraus, was gekocht wird. Dazu haben sie visualisierte Einkaufszettel: Auf ein laminiertes DINA4-Blatt mit Klettstreifen können sie kleine Klettetiketten der verschiedenen Produkte aufkleben. Die Produkte sind zum einen mit dem Ampelsystem in gesund und ungesund unterteilt, zum anderen aber auch einfach in die Lebensmittelgruppen. Und dann wird der Einkaufsplan damit bestückt, was benötigt wird. Zusätzlich haben die Bewohner:innen Zugriff auf visualisierte Kochbücher. Die Gerichte sind ebenfalls mit dem Ampelsystem in gesund, mittelgesund und ungesund gekennzeichnet. So fällt es den Bewohner:innen leichter, in der Wochenplanung auf eine ausgewogene Gestaltung der Mahlzeiten zu achten.“

Frank Rindermann, stellvertretende Leitung Wohnen,Lebenshilfe Köln e.V.
  • Legen Sie Wert darauf, bei den Mahlzeiten die unterschiedlichen Lebensmittel korrekt zu benennen. Vielleicht finden Sie auch eine Möglichkeit, ein solches „Training“ in ein Quiz zu verwandeln?
  • Nutzen Sie den Garten: Legen Sie gemeinsam mit den Bewohner:innen ein Gemüsebeet an und sehen Sie dem Gemüse beim Wachsen zu.
  • Planen Sie jeden Monat eine Aktion zum Thema Ernährung, die spielerisch Wissen vermittelt. Im Sommer laden Sie beispielsweise zum Cocktailnachmittag ein: Alle dürfen sich schick machen, Sie bereiten gemeinsam alkoholfreie Cocktails zu und überlegen dabei, was beim Thema Trinken zu beachten ist.
  • Leiten Sie Informationen über Kurse und Weiterbildungsmöglichkeiten an die Bewohner:innen weiter. Durch einen Kochkurs lassen sich beispielsweise neue Rezepte und Fingerfertigkeiten ausprobieren.
  • Nutzen Sie Apps zur Unterstützung, etwa SOVI für den Einkauf oder InA. Coach für das unterstützte Kochen. Sollten Sie eine eigene träger- oder einrichtungsinterne App planen, dann denken Sie daran, dass auch die Lerninhalte in solchen Apps Spaß bereiten müssen – ähnlich wie die Sportangebote (Spaß haben)
  • Zusatztipp für die WfbM: Lassen Sie unterschiedliche Gruppen das Mittagessen vorbereiten, wenn es die Gegebenheiten erlauben.

Hinweis für Schulen

Die Schule kann ein guter Ort sein, um Lebensmittel korrekt kennenzulernen, den Umgang mit Essen zu üben und ein positives Verhältnis zum eigenen Körper aufzubauen.

Ausgewogene Lebensmittel anbieten

Wissen über Nahrung und eine Beziehung zu Lebensmitteln sind die Grundlage für ausgewogene Ernährung. Allerdings muss es für Menschen in einem weiteren Schritt auch möglich sein, entsprechende Nahrungsmittel auswählen zu können. Fachkräfte in Wohneinrichtungen haben viel Macht, die Essenssituation zu beeinflussen. Wie gestalten Sie die Auswahl der Speisen? Wer bestimmt, was zum Frühstück oder Abendessen auf den Tisch kommt? Wer kauft ein? Werden individuelle Vorlieben beachtet? Wird das Essen möglicherweise noch über einen zentralen Einkauf geliefert? Die simple Antwort auf die Frage nach „gesunder“ Ernährung ist: Sie sorgen einfach dafür, dass nur ausgewogene Nahrung in der Wohneinrichtung vorhanden ist, so dass jede Wahl der Bewohner:innen auch eine gesunde Wahl ist. Diese Herangehensweise missachtet jedoch das Prinzip der Selbstbestimmung. Die komplexe – und arbeitsintensive – Aufgabe ist es daher, neue Wege der Mitbestimmung zu finden. Vielleicht stehen in der Wohngruppe seit zwölf Jahren Cervelatwurst und Doppelrahmkäse auf dem Frühstückstisch – dann könnte es an der Zeit sein, die Bewohner:innen zu fragen, ob diese Lebensmittelauswahl ihren Wünschen und ihrer Vorstellung von ausgewogenem Essen noch entspricht.

In den Wohneinrichtungen sollten Sie also einen Weg finden, gemeinschaftliche Mahlzeiten individualisiert und möglichst ausgewogen zu gestalten. Auch für die Frühstückspause in der Werkstatt und die Kaffeepause nach Feierabend können Snacks und Zwischenmahlzeiten angepasst werden. Sprechen Sie mit den Bewohner:innen ab, ob zu diesen Gelegenheiten statt Wurstbrot und Keksen auch Obst, Gemüse, Nüsse und Trockenfrüchte in Frage kommen.

Untersuchen Sie gemeinsam verarbeitete Produkte, die Sie im Supermarkt kaufen: Wo versteckt sich Zucker, was enthält trans-Fettsäuren? Überlegen Sie, ob Sie auf diese Produkte verzichten möchten, bessere Alternativen finden oder sie sogar selbst herstellen können. Gezuckertes Apfelkompott vom Discounter könnten Sie durch reines Apfelpüree ersetzen oder am Wochenende selbst kochen. Kartoffelsalat mit viel Mayonnaise lässt sich möglicherweise besser selbst zubereiten. Die Möglichkeiten werden stark von der Art der Einrichtung, von der Personalbesetzung, der Motivation der Bewohner:innen und der Zeitplanung abhängen. Finden Sie die beste Balance für Ihre Situation.

Einen großen Teil des Tages verbringen viele Menschen mit Lernschwierigkeiten in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Dort nehmen sie in der Regel auch ihr Mittagessen zu sich. Dieser Mahlzeit kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie in vielen Fällen die einzige warme und damit auch die größte Mahlzeit des Tages darstellt. Der folgende Teil des Kapitels richtet sich daher an die Verantwortlichen in den Werkstätten.

Ein zentraler Kritikpunkt der beteiligten Stakeholder:innen im Projekt „Gesund leben: Besser so, wie ich es will!“ war das in den Werkstatt-Kantinen angebotene Essen. Einige Beteiligte vermuten beispielsweise, dass sowohl die Portionierung als auch der Kaloriengehalt des Werkstattessens ein Grund für das hohe Übergewichtsrisiko der Beschäftigten ist. Viele Anbieter liefern den Werkstätten hochkalorische Kost, die wenig Auswahl zulässt und den Regeln für ausgewogene Ernährung widerspricht. Die Gründe für diese Schieflage sind vielfältig. Das Ziel ist jedoch klar: Wenn Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Lage sein sollen, selbstbestimmt über ihre Ernährung zu entscheiden, dann müssen die Werkstätten ein ausgewogenes Essensangebotsauswahl vorhalten.

Ihr Spielraum wird davon abhängen, in welcher Situation Sie sich als Verantwortliche:r einer Werkstatt befinden. Zuallererst sollten Sie herausfinden, was die Beschäftigten über das angebotene Essen denken. Was gefällt ihnen? Was steht ihren Wünschen entgegen? Ist die Auswahl zu klein? Sind die Portionen zu groß? Besteht der Eindruck, dass es eigentlich selten eine gesunde Option zur Auswahl gibt? Werkstätten beschäftigen viele Menschen. Überlegen Sie, was die beste Option ist, um die Meinung der Beschäftigten einzuholen.

  • Verfügt die Werkstatt über eine eigene Küche, dann können Sie einen großen Einfluss auf die Mahlzeiten nehmen. Zunächst ist wichtig, dass alle Beteiligten wissen: Ausgewogene Ernährung ist für die Werkstatt und ist Ihnen als Leitung wichtig. Sie können beispielsweise mit Schulungen starten oder eine Person einstellen bzw. festlegen, die sich hauptverantwortlich um die Zusammenstellung der Menüs kümmert.
  • Beziehen Sie Essen von externen Menülieferdiensten? Dann sind Ihre Einflussmöglichkeiten leider etwas eingeschränkter. In einem ersten Schritt sollten Sie sich sicher einmal damit beschäftigen, welches Essen überhaupt geliefert wird und wie die Nährstoffzusammensetzung aussieht. Ziehen Sie dazu gegebenenfalls eine:n Ernährungsberater:in hinzu. Vielleicht hilft es schon, bei Ihrem Anbieter die Menüoption zu wechseln. Oder Sie besprechen, ob möglicherweise auch andere Mahlzeiten angeboten werden können, die ausgewogener sind als die bisherigen. Schließlich können Sie sich immer auch einen neuen Anbieter aussuchen, wenn dieser Ihrer Vorstellung von ausgewogener Ernährung besser entspricht.
  • Wenn Sie Ihren Lieferdienst nicht optimieren können, dann denken Sie in neuen Kategorien über Verpflegung nach. Wie ließe sich die Küche eventuell in die Werkstatt eingliedern oder anderweitig in Ihr Verantwortungsgebiet bringen?

Wie will man mit 2,20 Euro vernünftig kochen?“„Wir haben unseren beruflichen Bildungsbereich komplett neu konzipiert. Damit wir die hochkalorische Lieferkost vermeiden können, kochen Menschen mit Behinderung in der Hauswirtschaft nun selbst. Problematisch war bisher, dass wir pro Menü nur etwa 2,20 Euro zur Verfügung haben – wie will man da vernünftig kochen? Im Berufsbildungsbereich ist das ein bisschen anders, denn wir können die Lebensmittel als Ausbildungsmaterialien geltend machen. Jetzt werden wir versuchen, täglich 200 Menschen so zu versorgen.“ 17

Stefanie Frings, Referentin für Inklusion und Teilhabe, Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen-Süd

Als Betreiber:in einer Kantine können Sie zudem Einfluss auf einen wichtigen Teil menschlichen Verhaltens nehmen: Gewohnheiten. Mit sogenannten Stupsern („Nudges“) können Sie dazu beitragen, dass Menschen sich eher gesundheitsbewusst verhalten. Das Konzept des Nudging geht auf die Ökonomen Richard Thaler und Cass Sunstein zurück.18 Nudging sollte nicht unkritisch verwendet werden, da es paternalistische Züge enthält. Es kann jedoch zu erstaunlichen Ergebnissen führen: „Studien konnten zeigen, dass die Anordnung von Speisen in Kantinen einen Einfluss darauf hat, welche Speisen gegessen werden: Gerichte, die zuerst präsentiert werden, werden beispielsweise häufiger gewählt, kleinere Teller führen zu weniger Lebensmittelabfällen und die Anzahl der vegetarischen Gerichte hat einen Einfluss auf die Menge des Fleischkonsums.“19 Insbesondere im Gesundheitsbereich wird Nudges eine positive Wirksamkeit bestätigt. Bei geringen Kosten und vergleichsweise geringem Aufwand lässt sich oft ein relativ hoher Nutzen erzielen.

Es ist beispielsweise leicht umsetzbar und wirksam, in Kantinen das Obst prominenter als die Süßigkeiten zu platzieren und somit den Obstverzehr zu erhöhen. 20

Kompetenzzentrum für Ernährung 2021

Ebenso leicht ist es, Wasserflaschen auf dem Tisch zu platzieren und dadurch möglicherweise den Wasserkonsum zu erhöhen.

Diese Hinweise beschließen den Abschnitt, der sich explizit an die Werkstätten richtete.

Fachliche Expertise nutzen

Als (oftmals pädagogisch ausgebildete) Fachkraft verfügen Sie über ein grundlegendes Ernährungswissen und haben sich je nach individuellem Interesse möglicherweise auch vertiefend eingelesen. Dennoch können sowohl Sie als auch die Bewohner:innen in mindestens dreifacher Hinsicht von qualifizierter Fachexpertise profitieren.

Erstens können Fachexpert:innen direkt in der Einrichtung angestellt sein. So haben Fachkräfte und Bewohner:innen regelmäßig die Gelegenheit, sich über Ernährung auszutauschen und gegebenenfalls auch individuelle Fragen zu besprechen. Solche Fragen können beispielsweise Ernährungsumstellungen betreffen, die einen positiven Einfluss auf bestimmte Unverträglichkeiten, Allergien oder chronische und akute Krankheiten haben können. Je nach Stellenumfang können dieser Fachperson unterschiedliche Aufgaben zukommen: Sie kann für die Essensplanung und das Kochen zuständig sein, zum Einkaufen begleiten, bei Fragen beraten oder Informationen vermitteln. Sie kann einer Wohngruppe fest zugeordnet oder als Springer:in für die gesamte Wohneinrichtung tätig sein. In jedem Fall sollten Sie für Synergieeffekte sorgen und die Expertise auch über die Wohneinrichtung hinaus im gesamten Träger nutzen. Eine mögliche Ausgestaltung dieser Expert:innenposition finden Sie im Best Practice-Beispiel auf Seite Error: Reference source not found.

Zweitens können Sie auch externe Ernährungsexpert:innen in die Wohneinrichtung einladen. Wenn Sie Informationsvermittlung in Form von Workshops oder ähnlichem planen, denken Sie aber am besten langfristig. Einmalige Veranstaltungen sind in der Regel weniger sinnvoll, da die gelernten Inhalte schnell verblassen (Informationen und Möglichkeiten). Klären Sie im Vorfeld auch, ob die angefragte Person die Inhalte angemessen und barrierefrei vermitteln kann. Denken Sie an leichte Sprache, kurze Einheiten, häufige Pausen und methodische Vielfalt (Personenzentrierte Planung). Einige Stakeholder:innen im Projekt verwiesen darauf, dass die Bewohner:innen oftmals Hinweise besser annehmen können, wenn sie von externen oder fachgebundenen Expert:innen stammen – und nicht von den regulären (pädagogischen) Fachkräften.

Und drittens können die Bewohner:innen auf die fachlichen Angebote außerhalb der Wohneinrichtung zurückgreifen. Dazu zählen beispielsweise Kochkurse, Ernährungsberatung oder andere Bildungsangebote. Je nach Situation kann es für eine Person möglicherweise spannender sein, an einem inklusiven Angebot teilzunehmen, das auch nicht behinderte Menschen in einem ähnlichen Alter anspricht. Insbesondere das Label „Gesund“ kann Abneigung wecken, weil die Leute „nicht schon wieder hören wollen, was sie alles Falsches essen“ (SH4_TI1, Pos. 104-108). Im besten Fall ist das Programm eines Kochkurses aber spannend und lässt zu, dass sich die Teilnehmenden gegenseitig unterstützen.

BEST PRACTICE: INKLUSIVE ERWACHSENENBILDUNG

Trotz anfänglicher Berührungsängste und heterogeneren Lerngruppen kann Inklusion in der Erwachsenenbildung gelingen“

Das folgende Beispiel fasst ein Kapitel in einem Buch über Empowerment und Inklusion zusammen. Es wird dargestellt, wie die Volkshochschule der Stadt Nürnberg – das Bildungszentrum (BZ) – Erwachsenenbildung für alle gestaltet.21

Barrierefreiheit ist „das durchgängige und wesentlichste Gestaltungsprinzip“. Dabei werden Menschen mit Behinderung einbezogen, etwa um den Internetauftritt barrierefrei zu gestalten. Die Anmeldung wird für Menschen mit Lernschwierigkeiten barrierefrei gestaltet, indem eine Einschreibung in allen größeren WfbM durchgeführt wird und beispielsweise Termine mit Wohneinrichtungen vereinbart werden.

Beeinträchtigungen werden nicht erhoben, abgesehen vom bezuschussungsfähigen Schwerbehindertenausweis. Zusätzlich werden das Bildungsinteresse und der Unterstützungsbedarf abgefragt.

Beförderung ist (nach einmaligem Antrag dauerhaft) unentgeltlich möglich für fahrdienstberechtigte Bürger:innen mit Mobilitätseinschränkung. Zusätzlich wird im Rahmen der Eingliederungshilfe ein Fahrscheinkontingent gewährt.

Assistenz wird durch eine große Anzahl an Kurs- und Reiseleiter:innen sowie durch beinahe ebenso viele Kursassistent:innen und Reisebegleiter:innen auf Honorarbasis geleistet. So wird es möglich, das Lernangebot zu differenzieren, in temporären Kleingruppen zu arbeiten und die Lernenden mit dem höchsten Unterstützungsbedarf kontinuierlich einzubeziehen.

Gebühren sind im inklusiven Programmangebot ohnehin niedriger. Besitzer:innen des Nürnberg-Passes erhalten zudem eine Ermäßigung von 50 Prozent. Beiträge für die „bildungsbenachteiligten“ Beschäftigten der WfbM sind grundsätzlich auf 15 Euro pro Veranstaltung ermäßigt (in der Regel sind dies Kurse mit bis zu 13 wöchentlichen Terminen).

Inklusion wird aktiv gestaltet, denn die Bewerbung von Kursen als „inklusiv“ ist leider kontraproduktiv. So wird möglichst nur mit Thema und Inhalten geworben. Die angemeldeten nicht behinderten Teilnehmende werden informiert, dass man sich über die Anmeldung freut und die Teilnehmenden ermutigen möchte, das inklusive Angebot auszuprobieren. Ihnen wird eingeräumt, bis zwei Werktage nach dem ersten Termin kostenlos zurückzutreten und bis zwei Werktage nach dem zweiten Termin für eine Bearbeitungsgebühr von 5 Euro.

Erfahrung: Testphase wird in mindestens 70 Prozent der Fälle wahrgenommen, und danach nutzt nur etwa jede zehnte nicht behinderte Person die Rücktrittsoption.

Ein Wort zu Gesundheit, Prävention und Motivation

Auf den vorangegangenen Seiten wurden viele Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Die Hinweise sollen eine Unterstützung sein, wenn Sie in den Wohneinrichtungen (und darüber hinaus) Strukturen verändern möchten, um gesundheitsfördernde Wohnsettings zu schaffen, die gleichzeitig das Recht der Bewohner:innen auf Selbstbestimmung wahren. Dazu konnten Sie konkrete Hinweise lesen, die sich auf die Gesundheitsthemen Bewegung und Ernährung bezogen. Das Kapitel soll nun mit einigen weiterführenden Gedanken abschließen, die sich mit Gesundheit im Allgemeinen, mit Prävention sowie mit Motivation befassen.

Zum Thema Gesundheit konnten Sie bereits in Kapitel 1 einiges lesen. An dieser Stelle soll noch einmal zusammenfassend darauf verwiesen werden, dass für ein möglichst gesundes Leben die Verbindung von Bewegung und Ernährung nahezu unumgänglich ist. Gerade mit Blick auf Gewichtsabnahme sollten Sie bedenken, dass Kalorienreduzierung allein nicht ausreicht. Auch körperliche Aktivität muss bei einem ausgeglichenen Lebensstil gegeben sein. Wie Menschen diese Verbindung von Bewegung und Ernährung leben, hängt ebenso von ihren individuellen wie auch von ihren sozialen Ressourcen ab. So beeinflussen zum Beispiel körperliche Beeinträchtigungen die Bewegungsfreiheit – aber ob und in welchem Umfang Menschen dennoch Sport treiben können, ist stark vom Umfeld abhängig.

Sind in der Wohneinrichtung etwa wöchentliche Termine für Einzelgespräche mit den Bewohner:innen vorgesehen, dann nutzen Sie diese Gelegenheit, um sich auch nach dem Gesundheitszustand zu erkundigen. Auch psychische Beeinträchtigungen sollten Beachtung finden. Stress, Depressionen und ähnliche Probleme können einerseits zu einem langfristig ungünstigen Gesundheitsverhalten beitragen; andererseits können sie dazu führen, dass die Betroffenen diese oder andere Gesundheitsthemen weniger enthusiastisch angehen können.

Sollten Sie in der Einrichtung bereits ein Programm für Betriebliches Gesundheitsmanagement nutzen, dann weiten Sie dieses auf die Bewohner:innen oder die Werkstattbeschäftigten aus. Wenn ein solches Programm noch nicht existiert, dann wäre die Entwicklung möglicherweise ein lohnenswertes Projekt.

BEST PRACTICE: EINE APP FÜR ALLE(S)

Wir schaffen damit einen Mehrwert für alle Beschäftigten“„Wir sind grundsätzlich verpflichtet, in den Wohn- und Werkstätten auf Arbeitsschutz zu achten. Häufig werden diese Themen aber nur einmal im Jahr besprochen. Wir haben uns daher vor einer Weile dazu entschieden, den eigentlichen Arbeitsschutz um das Thema Gesundheit zu ergänzen und somit einen Mehrwert für alle Beschäftigten zu schaffen. Dazu haben wir eine Software gekauft, die sowohl Auswahl als auch Individualität ermöglicht: Einerseits können Inhalte individuell zugewiesen und durchlaufen werden. Andererseits sind in der Bibliothek des Portals sowohl Pflichtpakete als auch freiwillige Angebote vorhanden. Diese Angebote sind nach Modulen sortiert (Bewegung, Ernährung, Psychosozialhygiene) und dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) zuzuordnen. So werden die Angebote des BGM, die bisher analog liefen, auch digital hinterlegt. Vorher bestanden Arbeitsschutz und BGM ohne Verknüpfung nebeneinander und nur aus den verpflichtenden Inhalten. Die Inhalte waren nicht in Leichter Sprache und meistens textbasiert, so dass wir Menschen mit Behinderung völlig ausgeschlossen haben. Jetzt modeln wir das gerade um, damit es Spaß macht, leicht zu verstehen ist und vor allem auch mit Audio- und Video-Formaten hinterlegt ist. Es bringt nichts, wenn die Beschäftigten eine textbasierte Anleitung bekommen, wie sie Sit-Ups machen oder walken gehen sollen. Sie müssen das vielleicht auch sehen und vielleicht muss sie jemand mit einer Go-Pro begleiten und zeigen, wie die Walking-Stöcke richtig eingesetzt werden.Die Software kann trägerweit über die eigene E-Mail-Adresse abgerufen werden. Sie bietet außerdem die Möglichkeit, Angebote hybrid zu gestalten und den Übergang von einem digitalen zu einem analogen Angebot zu ermöglichen – zum Beispiel, indem die Personen sich mit bestimmten Übungen schon mal auf das Lauftreffen im Sommer vorbereiten können. Mit einer Software können wir nun Arbeitsschutz und BGM verknüpfen. Durch den gamifizierten Ansatz der Software, mit kleinen Challenges, Quizzes und Videos, wollen wir sicherstellen, dass die Software gerne genutzt wird.“22

Stefanie Frings, Referentin für Inklusion und Teilhabe, Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen-Süd

Das Thema Substanzmittelkonsum fällt in einen Bereich zwischen Gesundheit und Prävention. Neben Nikotin, Alkohol, Marihuana und anderen illegalen Drogen stellen möglicherweise auch Energy Drinks ein Suchtpotenzial dar. An dieser Stelle kann es wichtig sein, (präventive) Aufklärungsarbeit zu leisten. Verfügen Sie selbst nicht über das notwendige Fach- oder Methodenwissen, verweisen Sie stattdessen an Suchtberatungsstellen, laden Sie Expert:innen ein oder führen Sie – vielleicht in Kooperation mit anderen – ein Projekt zum Thema durch. Begleiten Sie solche Projekte und Beratungstermine eng und bleiben Sie hierüber im Austausch. Unterscheiden Sie aber Prävention von Edukation, denn der Wille des Individuums steht nach wie vor im Mittelpunkt. Wie auch bei anderen Themen gilt es dabei, die Balance zwischen Desinteresse und Aufdringlichkeit zu halten – oft keine einfache Aufgabe!

Ganz allgemein können Menschen Entscheidungen besser annehmen, wenn sie aus ihnen selbst heraus kommen. Man spricht dabei von extrinsischer vs. intrinsischer Motivation. Während extrinsische Motivation von außen an eine Person herangetragen wird („Wenn du Sport machst, bekommst du eine Belohnung!“), wirkt intrinsische Motivation aus der Person selbst heraus („Ich habe solchen Spaß am Schwimmen! Und vielleicht schaffe ich heute sogar noch eine bessere Zeit als letzte Woche?“). Es nützt daher wenig, einen Menschen durch Reden, Anfeuern oder Belohnungen zu einer bestimmten Handlung „motivieren“ zu wollen – die nachhaltige Motivation muss von innen kommen. Es ist eine Sache, zu motivieren und Vorschläge zu unterbreiten – aber es ist eine ganz andere Sache, einen Termin anzusetzen, zu dem dann alle mitkommen müssen. Auch Ihre eigene gelebte Leidenschaft kann Motivation entfachen. Wenn Sie Fahrradfahren und grünes Gemüse lieben, dann stecken Sie mit Ihrer Begeisterung vielleicht einige Bewohner:innen an.

Aber: Verhaltensänderung dauert manchmal. Es ist gut erforscht, dass informelle Kurzinterventionen („Wow, der neue Jogginganzug steht Dir aber gut!“) stark motivationssteigernd sein können. Was dann letztendlich eine Verhaltensänderung bewirkt, ist jedoch noch wenig erforscht. Haben Sie Geduld.

Im Projekt „Gesund leben: Besser so, wie ich es will!“ wurden einige Arbeitsmaterialien zum Thema Motivation und Zielsetzung erarbeitet.23 Diese finden Sie im Anhang.

Hier geht es zum nächsten Kapitel Zugang zu Angeboten ermöglichen