Das Recht auf Gesundheit
Menschen mit Behinderung haben ein Recht darauf, das Höchstmaß an Gesundheit zu erreichen. Sie sollen diskriminierungsfreien Zugang zu – auch geschlechtsspezifischen – Gesundheitsdiensten erhalten. So schreibt es Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vor. Traditionelle Gesundheitspolitik konzentrierte sich vor allem auf Prävention (um Behinderung zu vermeiden) und auf Rehabilitation (um Behinderung zu heilen oder zu therapieren). Im Zusammenhang mit den Verpflichtungen der UN-BRK fordern Expert:innen jedoch einen Paradigmenwechsel: Eine moderne Gesundheitspolitik muss Behinderung als Lebensbedingung akzeptieren und den selbstbestimmten, gesundheitsfördernden Umgang mit dieser Lebensbedingung unterstützen.1
Noch immer werden Menschen mit Behinderung aber in der Gesundheitsversorgung diskriminiert. Diese strukturelle und systemische Diskriminierung ist ein eigener Krankheitsfaktor.2 Häufig werden diese Teilhabebarrieren den betroffenen Menschen selbst zur Last gelegt: Ihre individuelle Behinderung sei der Grund für die mangelnde Teilhabe. Im Gegensatz dazu macht die UN-BRK deutlich, dass nicht individuelle, sondern gesellschaftliche Hindernisse die Teilhabe blockieren, und dass die soziale Lage eines Individuums größtenteils auf die umgebenden Strukturen zurückzuführen ist.
Mit dem Begriff der Inklusion schafft die UN-BRK auch die konkrete Grundlage für die Sozial- und Gesellschaftspolitik. Das Motto lautet: Weg von der Fürsorge, hin zum Prinzip der Selbstbestimmung3 und zur gesellschaftlichen Veränderung.
Behinderte Personen als Menschenrechtssubjekte zu sehen, hilft, den Blick auf die Umwelt und die Gesellschaft mit ihren exkludierenden Strukturen und verletzenden Verhaltensweisen zu lenken. 4
Gesundheitsförderung
Wie die UN-BRK die Grundlage für das Behindertenrecht ist, so gilt die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung als Grundlage für den Begriff der Gesundheitsförderung. In diesem Dokument der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1986 sind bereits wichtige Kernthemen festgehalten.
So zielt die Gesundheitsförderung nach der Ottawa-Charta „auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.“ Die Charta spricht damit einerseits die individuellen Ressourcen an, andererseits vor allem auch die sozialen Voraussetzungen.
Gesundheitsförderndes Handeln bemüht sich darum, bestehende soziale Unterschiede des Gesundheitszustandes zu verringern sowie gleiche Möglichkeiten und Voraussetzungen zu schaffen, damit alle Menschen befähigt werden, ihr größtmöglichstes Gesundheitspotential zu verwirklichen. Dies umfasst sowohl Geborgenheit und Verwurzelung in einer unterstützenden sozialen Umwelt, den Zugang zu allen wesentlichen Informationen, die Entfaltung von praktischen Fertigkeiten, als auch die Möglichkeit, selber Entscheidungen in Bezug auf ihre persönliche Gesundheit treffen zu können. Menschen können ihr Gesundheitspotential nur dann weitestgehend entfalten, wenn sie auf die Faktoren, die ihre Gesundheit beeinflussen, auch Einfluss nehmen können.
An dieser Stelle ist eine Rückbesinnung auf das Ziel dieses Praxishandbuchs hilfreich. Die Entwicklung von gesundheitsfördernde Wohnsettings sollte zwar alle gerade genannten Voraussetzungen beinhalten. Gleichzeitig ist jedoch der Gedanke der Selbstbestimmung entscheidend und damit auch das Prinzip der Partizipation. Denn eine gesundheitsfördernde Umgebung bedeutet nicht, dass alle Menschen ab sofort einheitlich „gesund“ leben müssen. Es bedeutet vielmehr, dass alle Menschen unter Bedingungen leben, die es ihnen erlauben, so gesund (oder ungesund) zu leben, wie sie möchten, und dass sie diese Bedingungen mitbestimmen können.
Wirksame Gesundheitsförderung akzeptiert Menschen in ihrer Vielfalt, statt sie einfältig einer Idealnorm zu unterwerfen. Sie strebt weder den perfekten noch den perfekt funktionierenden Menschen an, sondern stellt lebbare Lösungen bereit, damit unterschiedliche Menschen unterschiedliche Gesundheitspotenziale realisieren können. 5
In einer solchen akzeptierenden Gesundheitsförderung geht es nicht darum, die „richtige“ Gesundheit hervorzubringen, sondern darum, vielfältige Ausprägungen von Gesundheit zu ermöglichen.6 Ziel ist eine „Gesundheitsförderung, die nicht auf Freiheit setzt, die als Vernachlässigung daherkommt, sondern auf Fürsorge, die nicht als Zwang daherkommt“. 7
Gesundheitsfördernde Lebenswelten
Die Begriffe (Wohn-)Setting und Lebenswelt haben im Rahmen der Gesundheitsförderung eine ganz bestimmte Bedeutung. Zunächst einmal können beide Begriffe synonym gebraucht werden, da Lebenswelt lediglich die deutsche Übersetzung des Wortes Setting ist. Settings beschreiben Sozialzusammenhänge, „in denen Menschen sich aufhalten und damit (…) die Rahmenbedingungen, unter denen Menschen leben, lernen, arbeiten und konsumieren“. 8
Der Settingansatz ist die Kernstrategie der Gesundheitsförderung. Denn die traditionelle Gesundheitserziehung, die sich hauptsächlich an Einzelpersonen richtete, hatte kaum Erfolg. So wuchs die Erkenntnis, dass Gesundheit nicht nur von individuellen Faktoren abhängt, sondern auch von sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen oder organisatorischen Faktoren. Gesundheit entsteht zwischen diesen gesundheitsfördernde und gesundheitsbelastenden Einflussfaktoren. Mit dem Settingansatz sollen diese Einflussfaktoren systematisch, positiv und nachhaltig beeinflusst werden. 9
Zwei Arten der settingbezogenen Gesundheitsförderung lassen sich unterscheiden: die Gesundheitsförderung im Setting und die Entwicklung gesundheitsfördernder Settings. In diesem Praxishandbuch wird es um beide Arten gehen, denn die Ansätze lassen sich mitunter nur schwer trennen. Gesundheitsförderung im Setting umfasst alle konkreten Angebote an bestimmte Zielgruppen. Wenn Sie beispielsweise Ernährungsratgeber in der Wohneinrichtung auslegen oder ein Programm zur Suchtprävention anbieten, dann handelt es sich dabei um eine Intervention im Setting. Die Entwicklung gesundheitsfördernder Settings strebt jedoch Veränderungen an, die über das Individuum hinausgehen: Wenn Sie etwa Tischtennisplatten anschaffen oder einen regelmäßigen Kleinbustransfer zum Fußballverein einrichten, wird das Wohnsetting selbst gesundheitsfördernder. Ein wesentlicher Aspekt ist in beiden Vorgehensweisen die Partizipation, also das Mitbestimmen und Mitentscheiden der Beteiligten. Gesundheitsförderung entsteht im gemeinsamen Entscheidungs- und Entwicklungsprozess.
Der Settingansatz hält die Balance zwischen Umweltbedingungen und individuellem Gesundheitsverhalten. Er sollte dazu im Idealfall die folgenden vier Elemente umfassen:
- Die Menschen im Setting sollten beteiligt werden, mitbestimmen und mitentscheiden können (Partizipation).
- Der Entwicklungsprozess sollte professionell und kontinuierlich koordiniert werden.
- Gesundheitsfördernde Kontextbedingungen sollten entwickelt werden.
- Die Kompetenzen, Ressourcen, Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der Menschen im Setting sollten gestärkt werden (Empowerment).
Subjektives Gesundheitsempfinden
Menschen schätzen ihren eigenen Gesundheitszustand ganz unterschiedlich ein. Bisher lagen jedoch kaum Daten über die gesundheitliche Situation von Menschen mit Behinderung vor. Von 2017 bis 2021 wurde erstmals eine Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung durchgeführt, deren Abschlussbericht im Juni 2022 veröffentlich wurde. Nun können bestimmte Aspekte näher beleuchtet werden, die mit Gesundheit und damit auch mit Selbstbestimmung und Barrierefreiheit zusammenhängen.
Insgesamt empfinden Menschen mit Beeinträchtigungen oder selbsteingeschätzten Behinderungen ihren eigenen Gesundheitszustand schlechter als Menschen ohne Beeinträchtigungen. Bei Personen mit selbsteingeschätzter Behinderung überwiegt die Ansicht, ihr eigener Gesundheitszustand sei mittelmäßig (52 Prozent der Befragten in Privathaushalten und 47 Prozent in Einrichtungen). Im Vergleich dazu geben 94 Prozent der nicht beeinträchtigten Menschen an, ihr Gesundheitszustand sei gut oder sehr gut. Betrachtet man die Ergebnisse nach den unterschiedlichen Beeinträchtigungen, dann lässt sich festhalten: Personen, die in Einrichtungen leben und Beeinträchtigungen beim Lernen, Denken, Erinnern oder Orientieren im Alltag haben, schätzen ihren Gesundheitszustand am besten ein (71 Prozent halten ihn für sehr gut/gut).10 Die Einschätzung der eigenen Gesundheit scheint aber davon abhängig zu sein, wie Personen sozial eingebunden sind. So empfinden Menschen mit Lernschwierigkeiten, die ein gutes soziales Netzwerk und starke Sozialkontakte haben, ihren Gesundheitszustand im Allgemeinen besser als Personen mit reduzierten Sozialkontakten.11 Ob Menschen Teilhabe und Zugehörigkeit erleben, hat offenbar einen deutlichen Einfluss auf das subjektive Gesundheitsempfinden.
Gesundheitliche Teilhabe und Selbstbestimmung
Somit spielen weitere Faktoren eine wichtige Rolle, damit Menschen die eigene Gesundheit aktiv beeinflussen können. Freizeitaktivitäten sind beispielsweise sowohl für den Gesundheitszustand als auch für das Erleben von Teilhabe bedeutsam. Auch in diesem Bereich unterscheidet sich jedoch die Lebensrealität von Menschen mit und ohne Behinderung. Für viele Menschen gehören etwa die Möglichkeiten, spazieren zu gehen oder Sport zu machen, selbstverständlich zum Alltag dazu. Menschen, die in Einrichtungen leben, üben diese Tätigkeiten aber selten aus (Abbildung 2): 25 bzw. 42 Prozent machen selten oder nie Ausflüge und Spaziergänge, während es beim Sport noch schlechter aussieht: 52 bzw. 65 Prozent machen selten oder nie Sport.
Abbildung 2: Wie häufig machen Sie folgende Dinge in ihrer Freizeit?
Die Gründe dafür sind vielfältig, dennoch zeichnet sich ein Trend ab: Zwar geben von den Personen mit selbsteingeschätzter Behinderung viele an, dass sie zu beeinträchtigt sind (63 Prozent) oder dass ihnen diese Aktivitäten zu anstrengend sind (40 Prozent). Ein erheblicher Anteil der Befragten in den Einrichtungen nennt aber strukturelle Gründe: Ihnen fehlt die Unterstützung, sie finden kein passendes Angebot oder keine Begleitung oder sie kommen nicht an den Ort der Aktivität (Abbildung 3). Diese Gründe zeigen, dass Gesundheit mehr als ein individuelles Projekt sein sollte, da es auch der entsprechenden Infrastruktur bedarf.
Abbildung 3: Warum machen Sie das nicht häufiger?
Für Bewohnerinnen und Bewohner in Einrichtungen sollte zur Unterstützung einer selbstbestimmten Lebensgestaltung der Zugang zu Unterstützungsdienstleistungen, einschließlich der persönlichen Assistenz, bedürfnisgerechter zur Verfügung gestellt werden. Auf diesem Wege kann im besten Fall mehr gesellschaftliche Teilhabe im Freizeitbereich ermöglicht werden.12
Es scheint somit notwendig zu sein, die selbstbestimmte Lebensführung von Menschen in Wohneinrichtungen stärker zu unterstützen. Die Aussagen der betroffenen Personen sind in dieser Hinsicht sehr deutlich: Während Menschen, die im eigenen Haushalt leben, größtenteils (95 bis 98 Prozent) selbst über ihr Leben bestimmen, erlebt mindestens ein Viertel der Personen in Wohneinrichtungen Fremdbestimmung. Am größten ist dieser Anteil in stationären Wohneinrichtungen: Mehr als ein Drittel (37 Prozent) der Befragten gibt an, dass meistens andere Menschen über ihr Leben bestimmen (Abbildung 4).
Abbildung 4: Selbst- bzw. Fremdbestimmung über das eigene Leben13
In welchen Lebensbereichen Personen gerne mehr Selbstbestimmungsrecht hätten, geht aus Abbildung 5 hervor. Unter anderem geben knapp zwei Drittel der Befragten in stationären Wohneinrichtungen an, sie würden gerne mehr darüber bestimmen können, was und wann sie essen.
Abbildung 5: Wunsch nach mehr Selbstbestimmung14
Gesundheitskompetenz entwickeln
Erinnern Sie sich noch einmal an die Definition von Gesundheitsförderung: Indem gemeinsam über Gesundheit reflektiert wird und gesundheitszuträgliche soziale Rahmenbedingungen geschaffen werden, werden die Beteiligten befähigt, eigene Fertigkeiten zu entfalten. So werden Menschen gesundheitskompetenter. Gesundheitskompetenz bedeutet: Individuen sind in der Lage, sich Informationen zu beschaffen, diese Informationen zu verstehen und das Wissen zu nutzen, um gesundheitszuträgliche Entscheidungen zu treffen.
Menschen mit Lernschwierigkeiten wird aber nur selten zugetraut, Gesundheitskompetenz zu entwickeln. Die entsprechenden Entscheidungen treffen oftmals externe Expert:innen oder die Fachkräfte der Wohneinrichtungen. Was eigentlich für alle Menschen gilt – nämlich Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu können – wird Menschen mit Lernschwierigkeiten häufig abgesprochen. 15
Obwohl sich die Lebensentwürfe16 und auch die gesundheitsbezogenen Interessen17 von Menschen mit und ohne Behinderung ähneln, wird in Studien dennoch eines deutlich: Vor allem Menschen in Wohneinrichtungen haben nur eine eingeschränkte Vorstellung von ihren eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten. Die „versorgungsorientierte Denkweise in klassischen Institutionen der Behindertenhilfe“18 scheint dazu beizutragen, dass die Bewohner:innen nur sehr schwer eigene Präferenzen entwickeln können. Daher ist es umso wichtiger, ihnen diese Möglichkeiten aufzuzeigen.
Gesundheitsressourcen
Für Menschen mit Lernschwierigkeiten scheinen drei Gesundheits-Ressourcen19 besonders relevant zu sein. Diese Gesundheitsressourcen tragen zusätzlich dazu bei, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten Gesundheitskompetenz entwickeln und die eigene Gesundheit aktiv und positiv beeinflussen können:
- Verständigungsorientierte Sprache: Im öffentlichen Raum und in Informationsmaterialien sollte verständlich, am besten in einfacher oder leichter Sprache20 , kommuniziert werden. Dies gilt beispielsweise im Stadtverkehr, in Kochbüchern oder in offiziellen Briefen.
- Zugehörigkeit: Menschen sollten sich als Teil einer Gemeinschaft erleben und Interessen teilen können – etwa als Fußballfan oder auf Musikveranstaltungen.
- Respekt und Freiheit von Diskriminierung und Vorurteilen: Niemand sollte verbale Gewalt, Beschimpfungen oder Ignoranz erleben müssen.
Wenn Menschen akzeptiert werden, eröffnen sich für sie gleichzeitig Erfahrungsräume und Handlungsmöglichkeiten.21
Selbstbestimmte Gesundheitsentscheidungen ermöglichen
Auf den vorangegangenen Seiten wurde beschrieben, was das Recht auf Gesundheit für Menschen mit Lernschwierigkeiten bedeutet, inwieweit sie dieses Recht bereits realisieren können und welche Schritte für die persönliche Gesundheitskompetenz nötig sind. Der Aspekt der Selbstbestimmung kam dabei immer wieder zur Sprache. Im nächsten Kapitel werden diese beiden Gedanken miteinander verbunden.